Jonathan Perry, Auf der Flucht

jonathan perry, auf der flucht„Lebt mit Frau und Kind in St. Pölten.“ – Diese zu einer Inschrift verdichtete Bio-Zeile beschreibt auch gleich jenen Kosmos, in dem der Gedichtband „Auf der Flucht“ spielt.

Jonathan Perry hat seine Gedichte auf der Drehbank eines St. Pöltener Kammerstückes eingespannt, die einzelnen Texte werden in Drehung versetzt und benehmen sich wie auf der Flucht. Das heißt, sie sind selbst noch nicht am Ziel angekommen, gleichzeitig verändern sie jedoch den Aggregatszustand und werden „flüchtig“, wie man das über Stoffe sagt, die allmählich aus sich selbst verschwinden.

Als Pendant zur biographischen Zeile im Eingangsbereich ist hinten eine Notiz installiert, die auf die Kunstform japanischer Tankas verweist. „Das Tanka beschwört den Augenblick, hält ihn fest mit Präzision und Musikalität.“ Dabei nähert sich der Autor dieser magischen Gedicht- und Liedform mit dem Besteck europäischen Liedguts. Die 1300 Jahre alte Form soll dabei nicht nachgeahmt, sondern als fernes Ziel für Perfektion angesteuert werden.

Diese Tanka-Kultur ist nun regelmäßig über die Buchseiten verteilt, dabei entstehen pro aufgeschlagener Doppelseite kleine Windrosen aus feiner Textur, an jeder der vier Ecken des aufgeschlagenen Buches klebt quasi ein Kleingedicht.

Drei „Randfotos“ leiten jene drei Kapitel ein, die man vielleicht als Zugänge beschreiben könnte. Einmal ist es der innige Blickwinkel von Geborgenheit, wenn das Töchterchen auf dem Arm des lyrischen Ichs sitzt und sich die Motive vorschaukeln lässt, ein andermal ist es die Idylle entlegenen Wohnens, wenn der Held zur Arbeit an den Rand des Grundstücks geht und dort ganz in Manier von Christian Morgenstern die Latten eines Zauns austauscht, im dritten Blickwinkel setzt sich der Held den täglichen Stimmungen aus, er geht mit der Sonne auf, findet sich plötzlich geräuschlos in sich selbst sitzend vor und begutachtet letztendlich jenen Vogel, der in jedem Gedichtband vorkommen muss. Im konkreten Fall trifft er im Traum auf eine idealtypische Lyrikkonstellation.

„Von einem kleinen grauen Vogel / geträumt ohne Ton / die geringste Bewegung / starrten wir einander an“ (80).

Die Texte tanzen form- und schwerkraftlos am Beobachter vorbei, Motive sitzen auf einem Plattenteller und die Plattennadel wendet sich dem Töchterchen zu. Draußen breitet sich für einen Augenblick Hollunder unter dem blauen Himmel aus, ehe eine Autofahrt ins Tal hinunter ansteht, um kurz mit dem Alltag Kontakt aufzunehmen und die wichtigsten Viktualien zu organisieren.

Am Nachhauseweg, lose in den Zeitkoordinaten des Nachmittags verfestigt, steht „am Flussraum dürr das Gras, immer weiter muss ich waten / weiß nicht warum / am Flussraum raschelt dürr das Gras“ (27) Zwei Seiten später: „Die Nachbarn drüben im Hof wechseln Worte / ein kurzer Hagelschauer zieht vorbei.“ (29)

Die Gedichte sind vielleicht einzeln auf der Flucht vor einer festgeknüpften Gedankenschleife, sie sind hintereinander aufgefädelt als Fuge, stets dem neuen Augenblick auf der Spur. „Brauchst du mehr Platz / fragt sie mich plötzlich / zieht seelenruhig weiter / Zahnseide aus der Packung.“ (32)

„Wenn die Kettensäge innehält / treibt sie wieder aus / die Stille / reicht alsbald bis in die Wolken.“ (37)

Einbegleitet von einem wundersamen Bild, auf dem eine Geländekante mit auskragendem Hausbach wie Schmutz an den unteren Rand gedrängt ist, steht im mittleren Teil die Familie aufgefädelt wie Bücher im Wunschregal für Glück. „Dicht gedrängt / doch voller Frieden / die Bücher im Regal: /eine glückliche Familie.“ (43)

In der Ferne hämmert jemand fein getaktet zum Geräusch von Spatzen auf Metall. Ein anderer verliert die letzten Worte zum Abschied, „weiter so“. (48)

„Erntezeit / Hinterm Traktor her / fahre ich / ins Tal / zur Beerdigung.“ (57)

Das Aufmacherbild für den dritten Teil zeigt besagte Geländekante, wie sie gesprengt wird und samt Haus und Maus in die Luft fliegt, von einer schweren Staubwolke an den unteren Bildrand gedrückt.

Je länger das lyrische Ich an seinem Leben herumfräst, umso heftiger wird der finale Wunsch: „Einmal nur / in diesem Leben / ganz und gar / alleine sein / das wünsch ich mir.“ (71) Offensichtlich ist alles auf der Flucht, und sporadisch kristallisiert sich aus dieser Bewegung ein Tanka heraus. „Nach Sonnenaufgang / ich starre ihn an / den Rest / der Karotte / am Schäler“ (75)

Das letzte Gedicht hängt wie eine Narbe in der Lektüre, oder wie eine unausgesprochene Fügung im Mund und jemand denkt, „dass es auf der Zunge liegt“.

Jonathan Perry sammelt meisterlich die Augenblicke im Revier seiner Sinne, und bescheiden fügt er sie zusammen zu einem großen Porträt mit dem Titel: „Lebt mit Frau und Kind in St. Pölten.“

Jonathan Perry, Auf der Flucht. Gedichte
Klagenfurt: Sisyphus Verlag 2023, 88 Seiten, 12,00 €, ISBN 978-3-903125-79-7

 

Weiterführender Link:
Sisyphus Verlag: Jonathan Perry, Auf der Flucht

 

Helmuth Schönauer, 14-11-2023

Bibliographie

AutorIn

Jonathan Perry

Buchtitel

Auf der Flucht. Gedichte

Erscheinungsort

Klagenfurt

Erscheinungsjahr

2023

Verlag

Sisyphus Verlag

Seitenzahl

88

Preis in EUR

12,00

ISBN

978-3-903125-79-7

Kurzbiographie AutorIn

Jonathan Perry, geb. 1993, lebt in St. Pölten.