Ilse Krüger, Das Rotzmensch

ilse krüger, das rotzmenschUmgangssprachlich gilt schon die Bezeichnung „Das Mensch“ als ziemlich abwertend, die Steigerung in „Das Rotzmensch“ kann als Inbegriff für Verachtung betrachtet werden.

Ilse Krüger stellt ihre autobiographische Darstellung vom Heranwachsen in der unmittelbaren Nachkriegszeit unter den alles vernichtenden Fluch „Rotzmensch“. Diesen Ausdruck verwendet die Oma der Heldin bei jeder Gelegenheit, um das heranwachsende Kind zu demütigen. Von diesem wird sie mit der vielsagenden Abkürzung „O“ bezeichnet, was vermutlich eher auf Oasch hindeutet, als auf die Marquise von O., obwohl im Roman alle ziemlich belesen sind und sich fallweise gepflegt ausdrücken.

Ilse Krüger setzt ihren Roman auf zwei Stränge: a) In einer romanhaften Außensicht bewegen sich die Figuren literarisiert durch die unmittelbare Nachkriegszeit in Zwettl und Wien, b) in einem Kommentar aus der Gegenwart, unmittelbar im Todeshauch von Covid gestaltet, ordnet die Ich-Erzählerin die Ereignisse und bereitet sie quasi vor für jenes „emotionale Archiv“, das kluge Menschen im Alter anlegen.

Innen- und Außensicht, Ilse in historischer Echtzeit und als reflektierende Ich-Quelle ergeben eine greifbare Plastizität von Zeitgeschichte, die sich in dieser Dichte nur als autobiographisches Projekt darstellen lässt.

Der Plot nimmt es mit jedem Entwicklungsroman Marke Johanna Spyri auf, diese Autorin beglückt die Protagonistin auch mit dem ersten ausgiebigen Leseerlebnis.

Aus der engen Stube in Zwettel, wo im gleichen Haus sowjetische Soldaten einquartiert sind, geht es für Ilse und ihre Mutter nach Wien, wo sie bei der berüchtigten O. Unterschlupf finden. Mutter ist deutsche Staatsbürgerin und wird als „leicht belastet“ von ihrem Job als Juristin ferngehalten. Ilse geht in Wien in die provisorische Nachkriegsschule und leidet vor allem unter der Verachtung der O. Diese wird wohlwollend als „psychisch labil“ beschrieben, ihr Trauma besteht aus dem Schock, den sie selbst als ledige Mutter erfahren hat. Jetzt feindet sie alles an, was ein Kind ins Haus bringen kann. Tochter und Enkelkind müssen diesen Frust ausbaden.

Mit der neuen Wohnung ergeben sich bald Möglichkeiten zur Erkundung der Welt. Nach einer Verschickung zu Verwandten in die von Bomben verschonte Schweiz geht es nach Holland. Diese Ferienlager sind als „Versöhnungsprojekte“ gestaltet, indem deutsche Kinder in jenes Land kommen, das ihre Eltern überfallen und geschändet haben. Bei dieser Gelegenheit erfährt Ilse das erste Mal von den Vernichtungslagern und kann sich einen Reim zur Familiengeschichte machen. Vater gilt als verschollen, Mutter hat ihn pragmatisch für tot erklären lassen und strebt die österreichische Staatsbürgerschaft an, um aus dem Schlamassel der Vergangenheit herauszukommen. Irgendjemand spricht beiläufig von der österreichischen Erbschuld.

Als kleine Pointe ist zu lesen, dass man sich um diese Zeit um das Tragen österreichischer Dirndl bemüht, um sich durch diese unverfängliche Kleidung vom Regime der Vergangenheit abzugrenzen.

Allmählich nehmen die Ausflüge zu, bald geht es mit dem Rad an die Adria, später kommt Frankreich hinzu, wo in Paris der väterliche Zweig von Mutter sitzt. Auf einer Skandinavien-Reise entfaltet sich schließlich jene Frischluft, die es Ilse ermöglicht, in ein freies Leben zu starten.

Freilich ist dieser Weg gepflastert von Verwundungen beim Erwachsenwerden, zuerst als Rotzmensch, später in Holland wird sie halb vergessen abgeholt, nachdem sie an einem einsamen Bahnsteig in fremder Sprache verzweifelt ist. Und der „kleine Suizidversuch“ an den Pulsadern kann lange nicht mit Pflaster überklebt werden.

Der Roman beleuchtet in eindringlichen „Übungen“ jenen Vorgang, dem sich jede Generation ausgesetzt sieht, wenn Eltern als verschollen galten , im Schockzustand den Alltag bewältigten oder böswillig labil direkt auf die Nachfahren losgehen. Aus dieser Haltung erklärt sich auch jene österreichische Nachkriegsschlauheit, die auf Verdrängen und Verklären fußt.

Zur Beleuchtung der jüngeren Geschichte gehören nicht nur die Dokumentationen, historischen Projekte und Objekte einer Erinnerungskultur, elementar für einen Frieden mit der eigenen Geschichte ist das Einrichten des „emotionalen Archives“, das Ilse Krüger mit ihrem Rotzmensch initiiert hat. Die Leser sind dabei die Begünstigten, sie dürfen an diesem Roman teilhaben, ohne sich selbst der schmerzhaften Tortur des Erinnerns allzu heftig aussetzen zu müssen.

Ilse Krüger, Das Rotzmensch. Roman, autobiographischer Nachkriegs- und Entwicklungsroman 1945–1956
Klagenfurt: Sisyphus Verlag 2023, 320 Seiten, 15,80 €, ISBN 978-3-903125-81-0

 

Weiterführende Links:
Sisyphus Verlag: Ilse Krüger, Das Rotzmensch
aga.at: Ilse Krüger-Sklenicka

 

Helmuth Schönauer, 10-12-2023

Bibliographie

AutorIn

Ilse Krüger

Buchtitel

Das Rotzmensch

Erscheinungsort

Klagenfurt

Erscheinungsjahr

2023

Verlag

Sisyphus Verlag

Seitenzahl

320

Preis in EUR

15,80

ISBN

978-3-903125-81-0

Kurzbiographie AutorIn

Ilse Krüger, geb. 1939 in Zwettl,lebt seit 1946 in Wien.