Drago Jančar, Als die Welt entstand

drago jancar, als die welt entstandBeim großen Blick auf die Welt vergessen wir meist, ihre Entstehung zu beachten. Die Welt entsteht mit jedem Menschen neu und wird ihm spätestens mit der Pubertät über den Kopf gestülpt.

Drago Jančar baut für seinen verdeckt ermittelnden Geschichtsroman über das Slowenien der 1950er Jahre ein einfaches, aber umso wirksameres Erzählgerüst auf. Der pubertierende Danijel wird in einem Wohnblock in Maribor von Vater und Mutter nach einem seltsamen Schwarzweiß-System erzogen. Die Mutter repräsentiert das Religiöse und Vater das Partisanentum, der Junge freilich lernt durch Beobachtung und Erzählungen bei anderen Leuten. So zieht in Sichtweite im Parterre eine gewisse Lena ein, die ab und zu Männer empfängt, was zu diversen Gerüchten führt.

Dieses Schicksal einer zugezogenen Frau lässt sich auch als größere Geschichte erzählen. Letztlich ist das ganze Land mehr oder weniger mit einem Koffer aus der Vergangenheit zugezogen und empfängt jetzt wahlweise Ideologien und Staatsformen, um das Passende für sich selbst zu finden.

Danijel lernt bald, dass die Wahrheiten nur in geschlossenen Blasen funktionieren. Man muss quasi zuerst das Zimmer abschließen und mit vorgehaltener Hand reden, ehe man sich mit den Gedanken der einen oder anderen Welt auseinandersetzt.

Vater prahlt mit seinen Erfahrungen als Partisan, letztlich verdankt er das bisschen Wohnung und Wohlstand jener Partisanenpartei, die jetzt das Sagen hat und emsig an einem staatstragenden Mythos arbeitet.

Mutter hingegen ist introvertiert religiös und opfert ihr Kind mit Hingabe dem Pater, der über Sonntagskult und Freizeitangebote den Knaben auf die Seite Gottes zu ziehen versucht.

Danijel fühlt sich dazwischen wie ein Stück Fleisch, an dem sich zwei wild gewordene Hunde verbissen haben. Auf dieser Spielfläche schwarzer Pädagogik wird jeden Tag die Welt aufs Neue erschaffen. Einmal heißt es ganz individuell empfunden:

Die Welt entsteht an einem Frühlingsmorgen. (13).

Und später wird die Entstehung der Welt auf die Jahreszeiten geschoben, die kommen und gehen. „Bald nach der Entstehung der Welt ist im Volk große Aufregung entstanden. Es war die Zeit des Herbstes, der Sommer war nirgends mehr, überall nur noch ein einziger November.“ (153)

Das Ergebnis dieses permanenten Schöpfungsaktes ist ein Maribor der 1950er Jahren, worin es vor Anspielungen und Zitaten nur so wimmelt. Als hauptsächliches Erzählelement und Leitfaden für Geschichtsschreibung dient dabei das Modell „Tschechows Gewehr“. Diese Lehre besagt, dass etwas, was auf der Bühne vorgestellt wird, später auch eine Funktion in der Geschichte übernehmen muss.

Bei Danijels Vater heißt Tschechows Gewehr „Baretta“. Gleich zu Beginn wird der Partisan vorgestellt durch seine Waffe. Später im Suff feuert er diese ab, und die Baretta landet bei der Miliz, was den Helden demütigt. Dabei werden seine Weltkriegsgeschichten ohnehin immer unglaubwürdiger. Auf die simple Frage, warum beim Besuch Hitlers in Maribor niemand auf ihn geschossen hat, schweigen die Partisanen eisern und hilflos.

Gefürchtet sind diese Partisanenabende auch beim Jungen, wenn er aus dem Zimmer geholt wird und für die angetrunkenen Kämpfer Partisanenlieder auf der Ziehharmonika begleiten muss. Später wird der Pionier-Eid erneuert, noch später gibt es Partisanengulasch, und ganz spät bekämpft Vater die Russen im Alleingang und wirft Trinkgläser nach ihnen.

Mutter hingegen lässt den Pater für die gute Sache kämpfen, wenn dieser aus simplen Alltagsbegebenheiten biblische Motive herausdestilliert und das Leben als eine Aufführung der Bibel begreift. Oft muss Danijel sich dabei als König David empfinden und durch eine biblische Welt tappen.

Zum Eklat kommt es, wenn Pakete eines ausgewanderten Verwandten aus Amerika eintreffen. Einmal ist bei Mutter die Hölle los, als auf einem T-Shirt das Logo von Red Devils aufgedruckt ist, ein andermal ist Vater aus dem Häuschen, als in einem Mantel keine Dollar eingenäht sind, wodurch dieser so gut wie wertlos ist.

Der erzählende Held Danijel wird allmählich erwachsen wie der junge Staat, in dem er lebt. Ein Sprichwort sagt, dass die Pubertät keine Entwicklung darstellt, bloß eine Verpuppung. Der Staat verpuppt sich quasi, um die jüngere Zeitgeschichte in den Griff zu bekommen.

Auch die Protagonisten bekommen sich allmählich in den Griff, indem sie sich in ihren Erinnerungen, Verdrängungen und Prahlereien häuslich einrichten. Die zugezogene Lena wird allmählich häuslich und bekommt die sie anflehenden Männer in den Griff. Und Danijel bekommt zumindest seine erotischen Zuspitzungen allmählich unter Kontrolle. Alle haben sich letztlich gut eingerichtet in der von ihnen selbst geschaffenen Welt.

Drago Jančar erzählt das Werden Sloweniens als Pubertätsgeschichte mit gutem Ausgang. Der Staat ist irgendwie erwachsen geworden, mehr wird von der Pubertät ja nicht verlangt. Und der groteske Erzählansatz ermöglicht es Lesern aller Staaten, sich ihre eigenen Geschichten zu erzählen, als die Welt entstand.

Drago Jančar, Als die Welt entstand. Roman. A. d. Slowen. von Erwin Köstler [Orig.: Ob nastanku sveta; Ljubljana 2022.]Wien: Zsolnay Verlag 2023, 270 Seiten, 26,80 €, ISBN 978-3-552-07358-6

Weiterführende Links:
Zsolnay Verlag: Drago Jančar, Als die Welt entstand
Wikipedia: Drago Jančar

 

Helmuth Schönauer, 14-12-2023

Bibliographie

AutorIn

Drago Jančar

Buchtitel

Als die Welt entstand

Originaltitel

Ob nastanku sveta

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2023

Verlag

Zsolnay Verlag

Übersetzung

Erwin Köstler

Seitenzahl

270

Preis in EUR

26,80

ISBN

978-3-552-07358-6

Kurzbiographie AutorIn

Drago Jančar , geboren 1948 in Maribor, lebt in Ljubljana.