Kurt Leutgeb, Kirchstetten
Kurt Leutgeb geht in seinem Roman „Kirchstetten“ davon aus, dass nichts eindeutig ist. Das beginnt schon mit dem Ort Kirchstetten, der dreimal rund um Wien vorkommt und ständig verwechselt wird. Damit diese Orte wenigstens historisch unverwechselbar werden, verpasst ihnen der Autor jeweils eine einmalige Geschichte.
Das Kirchstetten an der Westbahn, in das sich einst der Dichter Auden zurückgezogen hatte, hat dabei noch den direktesten Kontakt zur üblichen Geschichte. Der sowjetische Dichter Breschnjew aus Tschechowgrad wird 1972 über Nacht ausgebürgert und muss mit zwei Wodka-Flaschen das Land verlassen. In Wien sucht er letztlich Kontakt zur Literaturgeschichte und lässt sich, nachdem er alle falschen Kirchstetten besucht hat, im richtigen absetzen, wo Eden wohnt und seiner Homosexualität huldigt. In einem Gespräch reden die Dichter über die Figuren der Weltgeschichte, wobei Eden eigentlich nur wissen will, warum in Russland die Autofahrer die Scheibenwischer abnehmen, wenn sie parken.
Das zweite Kirchstetten im Süden Wiens an der burgenländischen Außengrenze gelegen wird 1956 Schauplatz eines Übergriffs. Drei sowjetische Soldaten vergewaltigen auf österreichischem Gebiet die sogenannte Bachmann-Tochter.
„Brodsky steht ganz am Rand des Gebüsches, sein Gewehr zeigt unmittelbar neben ihm auf den Boden. Er spürt in den Fußsohlen, dass er auf diesem Boden nicht stehen will und nicht stehen soll, doch er steht regungslos auf ihm.“ (65)
B-Gendarmen, alle mit Namen aus der österreichischen Literaturgeschichte versehen, beenden die Vergewaltigung, erschießen einen, verhaften den nächsten und lassen den dritten Soldaten entkommen.
Das nördliche Kirchstetten kriegt 2002 eine Geschichte verpasst, indem ein Passagier- und ein Frachtflugzeug genau über dem Ort zusammenstoßen und am Ortsende abstürzen. Ein russischer Baumeister verliert dabei seine Familie. Wie sich herausstellt, wohnt der schuldige Luftüberwacher im westlichen Kirchstetten. Der Trauernde identifiziert also im einen Kirchstetten die Leichen der Angehörigen und reist dann ins andere Kirchstetten, um den Luftüberwacher abzustechen. […]
Soviel aus der Rezension 2011, die im Sammelwerk „Tagebuch eines Bibliothekars“ erschienen ist. [Band IV, S. 628]
Anhand der Neuausgabe des Romans „Kirchstetten“ im Sisyphus Verlag lässt sich wieder einmal die Halbwertszeit von Lektüre überprüfen. Autor und Leser müssen sich die Frage gefallen lassen, warum eine frische Edition bzw. Lektüre sinnvoll ist.
Im Falle von „Kirchstetten“ ist es klug, den Buchtitel wieder lieferbar zu haben und in den Sisyphus Verlag zu überführen, der das Gesamtwerk Kurt Leutgebs in Schuss und Form hält.
Jetzt begreift man auch haptisch, dass dieser schmale Band wahrscheinlich das Schlüsselwerk der Leutgebschen Erzählform ist. (Ähnliches sagt man ja bei Thomas Bernhard über seine Erzählung „Amras“, worin mit einer Ortsbezeichnung ein Kulturzustand einer Epoche [„Tiroler Epilepsie“] gemeint ist.)
Wie auf einem Kompass mit den drei Windrichtungen „Kirchstetten“ laufen in diesem Roman die Erzählfäden auseinander, alle gehen von der grotesken Frage aus: Wie lässt sich nichtssagende, entlegene Provinz an einem Schicksalsfaden durchschreiten? In den drei Plots Ausbürgerung aus der Sowjetunion (1972), Grenzverletzung russischer Soldaten und Vergewaltigung der Bachmann auf österreichischem Boden (1956) und Flugzeugabsturz mit einer russischen Maschine (2002) erfahren die drei Kirchstetten jene Aufmerksamkeit, die mit historischen Erzählmitteln kaum zu bewältigen wäre. Kein Wunder also, dass diese Geschichten als Teil einer fiktiven Literaturgeschichte ausgegeben werden, in der bekanntlich alles abseits von Wahrscheinlichkeit glaubwürdig ist.
Eine Neuausgabe ist vermutlich die optimistischste Option, die einem Autor zur Verfügung steht, wenn er sein Werk über Jahrzehnte verwalten will. Die anderen Optionen wären Digitalisierung und Aufgabe der Rechte, Verpacken in Vorlasskisten oder Tilgen aus dem Werkverzeichnis der Homepage.
Für Leser und Rezensenten ist eine Neuausgabe immer eine Prüfung, ob sie den Kern des Romans bei der Erstausgabe halbwegs getroffen haben. Im Falle von Kirchstetten ist dieser Kern bereits zu einem Mythos ausgeschmolzen, sodass er sich aus verschiedenen politischen Weltlagen heraus vernünftig zitieren lässt. Im Falle von Russland ist dieser Erzählmythos in den letzten Jahren scharfen Überprüfungen ausgesetzt, aber Kirchstetten bewährt sich auch im neuen Sound der Weltgeschichte.
Als Leser ist man bei einer Wiederlektüre oft mit dem Phänomen konfrontiert, dass sich die Stimmung bei der Erstlektüre nicht mehr wiederholen lässt. (Die Raupe Nimmersattt kann ein Lied davon singen, wenn Erwachsene niemals mehr den Ton ihrer eigenen Kindheit treffen.)
Kirchstetten gewinnt bei der Wiederlektüre, weil die Zahl der darin verborgenen Anspielungen und Seitenhiebe schier unendlich ist. Immer wieder tut sich eine raffinierte Assoziation auf, und wenn man sich im Unendlichen verzweigt hat, überrascht einen der pure Fakt: Was ist, wenn die Literatur der Bachmann wirklich auf einen Grenzüberfall von Soldaten zurückgeht? (Im Roman wird das Kind anschließend dem Dorfdeppen untergeschoben.)
Der Roman Kirchstetten wächst mit den Lesern mit. Und in der Tat, alle Lektüre in anderen Bücheren, die zwischen Erstausgabe und Neuerscheinung geschehen ist, lässt sich problemlos als Anspielung unterbringen.
Bibliothekare reden oft von einer Lektüre-Weisheit, wonach man etwa fünf bis zehn Bücher im Laufe des Lebens immer wieder lesen sollte zur Vermessung der eigenen Biographie.
Kirchstetten ist ein idealer Roman für „Dauerlektüre“, der Roman wächst nämlich mit einem mit, wie es übrigens auch Österreich tut. Roman und Land fußen auf dem gleichen Plakat, das an entlegenen Scheunen aufgehängt ist: „Kirchstetten liest Kronenzeitung.“
Kurt Leutgeb, Kirchstetten. Roman. [Erstausgabe Innsbruck, Limbus 2011.]
Klagenfurt: Sisyphus Verlag 2023, 132 Seiten, 15,00 €, ISBN 978-3-903125-80-3
Weiterführende Links:
Sisyphus Verlag: Kurt Leutgeb, Kirchstetten
Homepage: Kurt Leutgeb
Helmuth Schönauer, 19-12-2023