Dieter Sperl, An so viele wie mich

dieter sperl, an so viele wie michStell dir eine Zimmer-große Kiste vor, darin sind lauter Scharniere eingelagert. Wenn du sie einzeln verwendest, kannst du alles damit beweglich und mehrdeutig gestalten. Dieter Sperl verschenkt eine ganze Charge solcher Scharniere, er nennt sie Traumnotizen und es geht um diese bewegliche Naht zwischen Traum- und Tages-Wirklichkeit. „An so viele wie mich“ eignet sich bestens als Titel, denn diese Fügung lässt sich vorne und hinten ausbauen zu einem multiplen Ereignis.

Wahrscheinlich sollte man den Begriff „Traumnotizen“ verschiedenen Bedeutungsfeldern zuweisen, einmal sind es wohl Notizen, die jemand im Umfeld eines Traums gestaltet hat, andererseits kann es sich auch um Notizen handeln, die Lesende zum Träumen bringen, ja sogar der Autor selbst kann die Texte für höchst gelungen halten, im Sinne von Traum-Urlaub, Traum-Angebot. Und schließlich weist der Traum-Begriff auf etwas Kollektives hin, das von der Gesellschaft teils träumerisch, teils traumatisiert bewältigt wird – die Pandemie.

Im Impressum steht der „historisch gesicherte“ Vermerk, dass die Notizen zwischen 20.2.2020 und 21.11.21 entstanden sind, das sind genau die Eckdaten, die mittlerweile dem COVID-Ereignis von Historikern zugewiesen worden sind.

Der Text ist in Ereignis-Absätze aufgesplittet, mit einer Leerzeile getrennt tummeln sich die Ereignisse an einer Traumschnur wie aufgehängte Wäsche, die beim Lesen flattert.

Etwa nach zehn Seiten Fließtext ist jeweils eine visuelle Installation eingebettet, das Hauptmerkmal ist die Schwarz-Weiß-Komposition, mit der Dinge, Zeichen, Schlieren und amorphe Schüttungen zu Bildern plastifiziert sind. Angeblich träumen die meisten Leser in Schwarz-weiß, oder behaupten es zumindest, denn wer bunt träumt, kriegt es bald einmal mit der Narco-Behörde zu tun.

Das „Aufbau-Bild“ (114) zeigt ein Stück Bebauung in den 1960er Jahren, zumindest das abgestellte Auto, ein Opel Rekord P2, und die Kleidung der herum-huschenden Figuren lassen diese Zeit in der Erinnerung aufsteigen. An diesem Bild zeigt sich die Genauigkeit der Erinnerung an ein bestimmtes Ereignis, wie es während des Erinnerungsvorgangs zusammenbricht und sich selbst an die Bildränder verdrängt.

Ähnliches geschieht bei den Traumnotizen, die vermutlich noch einer klaren Erinnerung geschuldet sind, während die erstbeste Fügung notiert und „in den Tag hinein gerettet“ wird, während die damit verknüpfte Handlung schon während ihrer Evokation verschwindet.
Musterbeispiel für diesen Erinnerungsvorgang sind Ereignisse mit den Eltern, die im ersten Flash aus der Sicht eines Kindes abgerufen werden, während die Eltern schlagartig das Zeitfenster verlassen und ein Stück Gebrechlichkeit werden, wie sie eine erwachsene Person den Eltern umhängt.

Wunderschön eine Begebenheit in Zeltweg, (66) wo das Ich schon im Zug sitzt und auf die Eltern wartet, dass sie zusteigen, aber der Zug fährt los und erzeugt den berüchtigten Angstschub, wie er in Verfolgungsjagden vorkommt. Das Ich sucht verzweifelt nach der Notbremse, ehe sich alles auflöst in Nichts, die Eltern sitzen in einem anderen Waggon, vermutet das Ich und beruhigt sich.

In solchen Vorgängen ist das Ich einmal gefordert als erlebende Traumfigur und später als aufschreibende Autorität. Beidemal ist die Erregung maximal, und diese setzt sich im lesenden Ich fort, wenn dieses voller Emotion hineingezogen wird in die Konstellation.

Das Geheimnis dieser Notizen liegt im Transfer der Emotionen, kaum hat sie der Autor hinter sich gebracht, geht die Geschichte im Kopf des Lesers weiter. Denn die angesagten Dinge, Dialoge und Szenen rufen im Leser ähnliche Träume hervor und beschäftigen diesen womöglich bis in die nächste Nacht hinein. – Wer denkt nicht beim Einschlafen an die Träume der vergangenen Nacht oder deren Lektüre in Erwartung neuer Träume, um die alten damit vergleichen zu können.

Die „angeträumte“ Welt besteht aus den Milieus Eltern, Kindheit, Schule (in Alpträumen unterrichtet das träumende Ich sogar selbst!), sowie Personen und Plots aus der Literaturgeschichte.
Die Traumnotizen lassen sich fallweise auf den gesamten Literaturbetrieb übertragen, der vielleicht insgesamt ein einziger Traum ist.

Peter Handke, Franzobel oder der Ritter Verlag beginnen eine Sequenz damit, dass sie den Namen in die Szene werfen und schon entsteht daraus Gemurmel bis hin zum Diskurs. Peter Handke hat mit der Sache, die Anschließend passiert, überhaupt nichts zu tun, aber allein, dass sein Name fällt, zeigt dem Träumenden und Lesenden, dass er jetzt aufpassen und hellwach sein muss, selbst im Traum.

Man kann direkt zusehen, wie es im Träumenden rumort und er an sich selbst würgt. Beim Festival „Sprachsalz“ (29) in Hall sind alle Bücher der auftretenden Helden vertreten, nur der Erzähler muss ohne seine Bücher auskommen, weil man sie verschlampt hat. Diese Szene irritiert den Helden dermaßen, dass er sich nicht sicher ist, ob er überhaupt in Hall gewesen ist.

Die Optik vieler Anlässe ist schräg, zwei Menschen sitzen in Bademänteln herum, aber das Ich merkt entsetzt, dass er unter dem Frottee nackt ist. Die Eltern gehen wie immer ins Konzert, aber die Philharmoniker fühlen sich plötzlich gestört und beenden den Traum. Eine Nachbarin kommt vom Radfahren zurück und ist begeistert von der Frische, die nach körperlicher Anstrengung entsteht. Sogar der ihr zunickende Dichter ist erfrischt, denn er hat tagsüber „körperlich“ gedichtet.

Apropos Körper: Immer wieder soll es verwundern, dass jemand im Traum keinen Körper hat. (15) Einmal klopft es an der Tür, aber es steht niemand draußen, die Angst des Öffnenden ist dennoch körperlich.

Wundersam plastisch wird es, wenn der berühmte Beatnik-Forscher Antonic in Amerika die Nummer des Träumenden vergisst, ihn aber dennoch anruft, weil er ihn mit einer an den Felsen geketteten Sagenfigur verwechselt.

Nach so viel euphorischem Zwielicht und scharrender Ambiguität, die diese Gedankenscharniere auslösen, ist noch die Frage zu klären, wie man aus dieser Welt herauskommt. Die Lösung ist elegant: Das Ich ruft bei einer Behörde an und storniert das Abo. „Gefangenschaft aufkündigen, Gefolgschaft aufkündigen!“ – Aber das mag sich vielleicht nur auf die Pandemie beziehen.

Dieter Sperl jedenfalls beendet diese Traumnotizen äußerst trotzig:

„Was soll ich machen, wenn ich aufhöre zu träumen?“

Dieter Sperl, An so viele wie mich. Traumnotizen
Klagenfurt: Ritter Verlag 2022, 195 Seiten. 23,00 €, ISBN 978-3-85415-641-3

 

Weiterführende Links:
Ritter Verlag: Dieter Sperl, An so viele wie mich
Literaturhaus Wien: Dieter Sperl

 

Helmuth Schönauer, 12-07-2023

Bibliographie

AutorIn

Dieter Sperl

Buchtitel

An so viele wie mich. Traumnotizen

Erscheinungsort

Klagenfurt

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Ritter Verlag

Seitenzahl

195

Preis in EUR

23,00

ISBN

978-3-85415-641-3

Kurzbiographie AutorIn

Dieter Sperl, geb. 1966 in Wolfsberg, lebt in Wien.