Friedrich Hahn, Dichterleben
Poetikvorlesungen gelten gemeinhin als sozial hochrangige Veranstaltungen, in denen das dichtende Individuum einem akademischen Publikum die eigene Schreibtheorie anhand des eigenen Werkes vorträgt. Das Genre erweist sich als Kippmedium zwischen wissenschaftlicher Analyse und subjektiver Fiktion. Der Begriff wurde ursprünglich aus bilanztechnischen Gründen verwendet, mit dieser Bezeichnung nämlich lässt sich eine Veranstaltung im universitären Betrieb unkompliziert abrechnen.
Friedrich Hahn hält nun unter dem Titel „Dichterleben“ seine eigene Poetikvorlesung quasi für sich selbst. Bestenfalls hält er sich diese auf Vorrat, um gerüstet zu sein, sollte spontan jemand eine Vorlesung von ihm verlangen. Womit er schon beim Thema ist.
Wie geistert ein Schriftstellerleben aus? - „Dichterleben“ kann dazu als Jahresprotokoll eines Siebzigjährigen gelesen werden.
Schon der Start führt fulminant in diese Erregungszone, wo manches von sich aus Text ist und sich vom Leben losgelöst hat, anderes ungebrochenen Schmerz verursacht, weil es sich nicht zum Text ausformen und erledigen lässt. Die Wohnungstür ist mit einem Graffito verunziert, wahrscheinlich ein mutwilliger Schaden, vielleicht aber auch ein künstlerisches Geschenk wie ein Gedicht. Die Reaktion des Erzählers geht jedenfalls von Irritation und Schädigung aus, es sei keine Kunst, sondern eine Versicherungsangelegenheit.
Dieser Drahtseilakt der wahren Empfindung wird künftig vom Autor unter zwei Aspekten gewürdigt: 1. Als wäre alles schon gesagt (7) / 2. Was noch zu sagen gewesen wäre (177)
In diesem Lichte verschwimmen auch die Grenzen von fertig / unfertig; privat / öffentlich; ritualisiert / amorph. In einer Symbiose aus diesen Zuständen entwickelt sich ein Jahresablauf, der für sich genommen scheinbar ungeplant geschieht, durch die penible Denotation freilich wie ein freches Drehbuch daherkommt.
Obwohl scheinbar nichts geschieht, wird der Leser sofort in den Text hineingerissen und ein Jahr lang nicht mehr losgelassen, wenn er dieses erzählte Jahr selbst erlebt hat. Denn er ahnt, hier versucht ein Autor aus der persönlichen Erfahrung eine allgemeine Erfahrungsgültigkeit für eine ähnliche Jahreskohorte zu erzählen.
Der Tagesablauf wird gespeist durch Ritualisierung, die vielleicht durch die Fügung abgerundet erscheint, wonach der Vormittag einen Vormittag braucht, bis er fertig ist. Beim Durchscrollen und Durchblättern diverser Medien spielen Geburts- und Todestage eine fixe Rolle, zumal diese meist eine auf Literatur spezialisierte Erinnerung auslösen. Mit manchen Verstorbenen gab es gemeinsame Auftritte, manches wurde gegenseitig rezensiert, manche bleiben mit ihrer Ablehnung einer Zusammenarbeit in Erinnerung.
„Mit der Zeit gehen mir die Verleger aus“, heißt es ernüchternd, wenn die Letzten gestorben oder aus dem Literaturbetrieb ausgeschieden sind. – Das ist wahrscheinlich die bitterste Erkenntnis dieser Vorlesung, dass die sogenannten literarischen Freundschaften abprupt enden, wenn das entsprechende Geschäftsfeld verlorengeht.
Der Autor verspürt es am eigenen Leib, dass er nicht mehr interessant ist, seit er keine Veranstaltungen moderiert, Werkstätten initiiert oder Preise kuratiert. Am Beispiel des Literaturstipendiums Alsergrund, einer für den Stadtteil relevanten Aktion, erfährt der Autor, dass er nichts mehr wert ist. Sein „Lebensprojekt“ wird stillgelegt, kaum dass er den Fuß bei der Tür draußen hat.
Ab und zu gibt es noch lebende Zusammenkünfte, die aber eher Versehrten-Meetings gleichen. Das Klassentreffen wird zum Auflauf von Krankengeschichten, einzig ein tapferer Künstler bringt ein Porträt aus der Jugend mit, das jetzt am Cover des Buches Dichterleben Platz und Sinn findet.
Neben der literarischen Introspektion, die täglich anhand von Medien stattfindet, plagt den Autor naturgemäß das Private, vor allem die Tochter macht Sorgen, weil sie ihre eigenen familiären Schwierigkeiten mit Schweigen und Kontaktabriss aussitzt. Ihre Mutter verbittet es sich außerdem, im Buch vorzukommen, wodurch im Journal manche Absätze „wie gelöscht“ notiert werden müssen. Aber das ist vielleicht eine gute Erzählmethode für das Unaussprechliche: Man grenzt genau ab, was nicht gesagt werden darf.
Die dritte Komponente liegt im Abarbeiten des Alltags, wunderschön zusammengefasst in einem Metakommentar über das Poetische: „Ich gehe zum Einkaufen. Ich komme vom Einkaufen. Zwei Sätze wie aus einem Text in einfacher Sprache. Wenn nur alles so einfach wäre: Ich gehe zum Einkaufen. Ich komme vom Einkaufen. Mein welkes Bein schmerzt.“ (159)
Phasenwiese kumulieren Kleinigkeiten zu einem Gedicht, wenn etwa das Auto nur einmal im Jahr bewegt wird, weil es zum Pickerl geht, oder wenn der Postbote die Erdgeschosswohnung nützt, um Buchpakete persönlich zuzustellen. Aus den Kleinodien des Tagesablaufs entstehen auch die sogenannten „Schnipselgedichte“, die entweder aus Zeitungsausrissen zusammen-collagiert oder als semantische Updates von Wortspielen zu Lyrik ausgeformt sind.
Und der Körper will ständig bei diesen Übungen abhauen und drängt sich in den Mittelpunkt, wenn er sich vernachlässigt fühlt. Das sogenannte „welke“ Bein wirkt als Mahnmal, Gedenkfleisch und Sendemasten diverser Überlegungen über das Vergängliche.
Das „Vorlesungsjahr“ vergeht schneller, als es Autor und Leser wahrhaben wollen. Als alle Verleger absagen, fasst sich Friedrich Hahn noch einmal ein Herz und startet ein größeres Projekt, worin das noch nicht Gesagte ans Textlicht geholt wird. Der zweite Abschnitt „Was noch zu sagen gewesen wäre“ zeigt auf, was in Wahrheit unter dem bereits ausgeformten Text steckt. Dabei werden spielerisch Probebohrungen für einen noch nicht entdeckten Text gesetzt. So googelt der Autor zwischendurch Orte und Wege aus der Kindheit auf Maps, wodurch hinter dem Cursor der angesteuerten Punkte sich Adern voller Zuversicht und Kindheitserinnerung auftun. An anderer Stelle ergeben diese Sondierungen prächtige Romananfänge oder Startsätze für Erzählungen.
Ich bin meiner Zeit voraus. Ich lasse mich überholen. Es war bloß ein Hörfehler. (213)
Im Sinne einer Poetikvorlesung sind die Quellen der Erlebnisse ausgewiesen, oft handelt es sich um Artikel, eine große Datenmenge kommt aus den Lektüren und Rezensionen des Autors, und manchmal sind es auch nackte Zahlen, die Autor und Leserschaft zum Staunen bringen.
Als der Innsbrucker Laurin Verlag das Lager räumt, schickt er dem Autor die Zahlen mit den Restexemplaren, die um einen Euro zu haben wären. „Von allem Ende an: 757 // Mitten am Rand: 267 // Wie es im Buche steht: 346 // Komme, was wolle: 141“ – So also spricht der Literaturmarkt zu seinen Akteuren.
Friedrich Hahn hält der Literatur ungebrochen die Treue, sein Problem ist höchstens, wie er das „Dichterleben“ beenden soll. Er findet einen Dreizeiler, der ordentlich ploppt wie früher die Kaugummi-Blase:
Als sei nichts gewesen. / Literatur als sei nichts gewesen. / Leben als sei nichts gewesen. (219)
Friedrich Hahn, Dichterleben. Ungehaltene Poetikvorlesungen
Maria Enzersdorf: Edition Roesner 2024, 219 Seiten, 24,90 €, ISBN 978-3-9505405-8-1
Weiterführenden Links:
Edition Roesner: Friedrich Hahn, Dichterleben
Wikipedia: Friedrich Hahn
Helmuth Schönauer, 16-05-2024