Selma Mahlknecht, Im Kokon
Kein Wurm mehr aber auch kein Schmetterling, das ist in der Insektenkunde das Stadium des Kokons. Bei den Menschen heißt das schlicht Pubertät.
Die Erzählerin durchlebt gerade diesen Kokon, das bedeutet, dass keine passende Sprache zur Verfügung steht, dass die Freundschaften wackeln, dass die Vorstellung von der Welt überhaupt nicht der sogenannten Welt entspricht.
Die Erzählerin ist vom bisherigen Leben gewarnt. Es ist gut, wenn man mindestens zwei Varianten von einer Sachlage hat, eine für die Kommunikation zur Außenwelt und eine für sich selbst. Es versteht sich von selbst, dass bei diesem Programm die schizophrene Wahrnehmung an der Tagesordnung steht, denn nicht immer wird dem anstehenden Problem mit der passenden Maßnahme geantwortet.
Von der Mutter gegängelt, in der Schule meist mit Sinnlosigkeiten beschäftigt kramt sich die Heldin bald einmal eine passende Überlebensstrategie zusammen. Quasi aus dem Stand heraus verliebt sie sich in Nelly, die wie eine Hexe außerhalb der Gesellschaft in einem Häuschen lebt. Zudem ist die Angebetete schwanger und hält trotzdem nichts von Männern. Vielleicht ist sie die ideale Hexe der Gegenwart, mit der man wunderbar abhauen könnte. (32)
Aber Nelly will nicht so recht, die Erzählerin flüchtet in endlose Spaziergänge, das ganze romantische Set des Brütens und Meditierens wird ausgebreitet, am Teich kommt die Melancholie wie von selbst. Vielleicht sind die Märchen der Realität nachempfunden und man muss sich nur ein persönliches Märchen zusammenzimmern, dann wird daraus Realität.
Ein Freund, der angeblich Mathematikstunden gibt, muss als Tarnung herhalten für die immer heftiger einsetzenden Besuche und Bestürmungen der Hexenhausbewohnerin.
Das Ungeborene im Bauch von Nelly verhält sich ideal, denn es ist ruhig und man kann ihm von außen alle Geschichten vorlesen, die man selbst nicht ganz auf die Reihe kriegt. Aber nichts ist von langer Dauer, denn plötzlich taucht eine gewisse Livia auf und mischt sich überall ein.
Der Kokon wird immer bedrückender und enger, eine mittlere Bewusstseinskrise mit Ohnmacht sprengt schließlich den Kokon und verschafft der Erzählerin offensichtlich den Weg zu sich selbst und ins Freie.
Selma Mahlknecht schickt ihre Heldin verschmitzt in den Tunnel der Pubertät, kratzt an der Sprachlosigkeit zwischen den Generationen und überlässt es diskret dem Leser, inwiefern er sich probehalber im Kokon verspinnen will. Keine Pubertät lässt sich wahrheitsgetreu erzählen, aber so wie in dieser Erzählung könnte es sich manchmal abspielen.
Selma Mahlknecht, Im Kokon. Erzählung.
Bozen: Edition Raetia 2007. 167 Seiten. EUR 17,-. ISBN 978-88-7283-282-0 .
Weiterführende Links:
Edition-Raetia: Selma Mahlknecht, Im Kokon
Bücher-Wiki: Selma Mahlknecht