Nanni Balestrini, Sandokan

Wie kann man einen sozialen Sumpf erzählen, ohne dass man als Leser darin rettungslos verlorengeht? - Nanni Balestrini hat für seine Camorra-Geschichte die Methode der Atemlosigkeit gewählt.

Rein äußerlich tut sich eine Kriminalgeschichte auf, der Camorra-Pate Sandokan wird gleich zu Beginn eingekesselt und verhaftet, aber der Ich-Erzähler wird durch diese Aktion in einen Bottich von sozio-historischen Schlingpflanzen geworfen, dass er Mühe hat, etwas Ordnung in die Wahrnehmung zu kriegen.

Dabei lassen sich die Kapitel recht logisch an: Verhaftung, Tod, Politik, Deponie oder Leichenschauhaus sagen recht eindeutig, worum es geht. Doch im Text gibt es kein Halten mehr, keine Pausensetzung, keine Satzzeichen, keine Sätze, die man als Dialog verstehen könnte. Eine Erzähl-Wurst rinnt über die Geographie wie die Camorra und vernichtet dabei alles, was sich nicht an die ungeschriebenen Gesetze dieser Gesellschaft hält.

Reviere werden nicht abgesteckt, sondern mit großen Autos abgefahren. So kontrollieren die Bosse einerseits das Gebiet und sind andererseits immer am Laufenden. Die Alltagsarbeit machen sogenannte „Muschilli“, das sind junge Einsteiger, die wie kleine Fliegen lästig herumschwirren und als eine Art Frühwarnsystem für Polizeieinsätze durch die Gegend surren.

Ununterbrochen werden Geschäfte gemacht, die man als solche nicht wahrnimmt. So wird etwa das geerntete Obst amtlich vernichtet, damit die Preise stabil bleiben. Unter das Obst mischt man freilich auch Steine und andere schwere Sachen, damit das Gewicht stimmt, denn bezahlt wird nach Deponie-Tonnage.

Andererseits gibt es in kleinen Orten oft bis zu zehn Bars, die von ehemaligen Ostblock-Girls geführt werden. Diese Bars dienen bloß dazu, dass immer genug Frauen anwesend sind, wenn einem Mann aus dem Clan danach ist.
Der Ich-Erzähler fädelt alle diese Ereignisse ohne Kommentar auf, wie man einen Aufsatz für eine Schulstunde vorbereitet.

Die Clan-Kinder werden immer in anderen Orten unterrichtet, wo das Lehrpersonal bereits eingeschüchtert ist. Liebschaften gibt es überall, aber die offiziellen Geschichten laufen streng vorbereitet zwischen den Clans ab.

Und immer wieder ist jemand schwerhörig oder versteht nicht schnell genug und wird erschossen. Die Mutter des Erzählers trägt schon seit Jahren nur mehr schwarz, weil ständig jemand betrauert werden muss. Im Leichenschauhaus riecht es übrigens wie in einer Metzgerei, stellt der Erzähler fest, während er würgend hinausgeht.

Nanni Balestrini erzählt mit dem kalten Auge eines Soziologen, die Figuren werden immer grotesker, ehe sie am Schluss mit einem Juchzer in Dantes Inferno verschwinden. - Haarsträubend genau!

Nanni Balestrini, Sandokan. Eine Camorra-Geschichte. A. d. Ital.. von Max Henninger. [Orig.: Sandokan, Storia di camorra, Turin 2004].
Berlin: Assoziation A 2007. 142 Seiten. EUR 13,-. ISBN 978-3-935936-55-2.


Weiterführende Links:
Assoziation A: Nanni Balestrini, Sandokan
Wikipedia: Nanni Balestrini


Helmuth Schönauer 19/07/12

Bibliographie

AutorIn

Nanni Balestrini

Buchtitel

Sandokan. Eine Camorra-Geschichte

Originaltitel

Sandokan, Storia di camorra

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2007

Verlag

Assoziation

Übersetzung

Max Henninger

Seitenzahl

142

Preis in EUR

13,-

ISBN

978-3-935936-55-2

Kurzbiographie AutorIn

Nanni Balestrini, geb. 1935 in Mailand, lebt in Paris und Rom.