Piersandro Pallavicini, Ausfahrt Nizza

Da das Leben die Figuren steuert und nicht umgekehrt, kommt es am Lebensende meist zu Entgleisungen der skurrilen Art.

Piersandro Pallavicini kümmert sich in seinem Roman „Ausfahrt Nizza“ um jenen Notausgang, durch den vorzugsweise in der Literatur die Figuren geschleust werden, wenn das Leben verbockt ist und zu Ende geht. Zwei gut abgehangene Ehepaare und ein Witwer als Ehe-Restl rasen in einer Oldie Rallye nach Nizza, um das erlauchte Ambiente, die Restaurants mit Senioren-Touch und die eleganten Kliniken unter Palmen zu genießen.

Schon die Anreise der Siebzigjährigen verläuft kriminell gefährlich, einen Ukrainischen LKW drangsalieren die Alten so heftig, dass dieser die Autobahn verlässt und sich für eine Schlägerei fertig macht.

Die Gespräche der fünf Abenteurer sind geprägt von Vergesslichkeit, Alt-Herrenwitzen, brummender Pseudo-Sexualität und äffischem Zelebrieren von Ticks und Marotten.

Der Ich-Erzähler berichtet stets von seinen Sehstörungen, den Schmerzen, gegen die es Hanf zu rauchen gilt und den abrupten Haken, die der Körper schlägt. „Das petit déjeuner verlieh mir denselben Schwung wie eine Entwässerungstablette.“ (35) Und beim Pissen im Sitzen kann es schon mal geschehen, dass vergessen wird, dabei die Hose hinunterzuschlagen.

Während sie der Oldie-Trupp in Nizza austobt, verliert sich Cesare, das erzählende Ich, in die Vergangenheit und die Tätigkeit als Verlagsleiter. In der Rückschau lässt sich nicht mehr genau unterscheiden, was ein ehemaliger Traum, eine Entscheidung oder ein Erlebnis gewesen ist. So machen sich damals lektorierte Romane selbständig, korrigierte Sätze werden zur Eigen-Fiktion, Sprüche und Witze können aus einem Text oder der eigenen Vergangenheit stammen aus jener Zeit, wo das männliche Ich „noch direkt auf die Möse losging.“ (54)

Hinter einem Ambiente aus Rollatoren, Rollstühlen und Leibstühlen tut ein Klinikareal auf, in dem die Helden von einst als Schatten herumhuschen. Einer davon könnte ein ehemals gefeierter Schriftsteller sein, der sich in Nichts aufgelöst hat. Cesare gerät kurz aus dem Häuschen, was, wenn der Schatten in der Klinik sein ehemaliges Schriftsteller-Zugpferd ist?

Aber der Star von damals ist abgereist, die alte Truppe säuft sich durch ein paar Bars und erzählt sich schweinische und Schwulen-Witze. Den Ich-Erzähler wirft es aus der Realität und er erlebt den Rest des Urlaubs in gezählten fünf Vollnarkosen. – Die Kinder holen ihre vertrottelten Eltern schließlich ab.

Piersandro Pallavicini erzählt mit hemmungsloser Jugendlichkeit vom Verlöschen der Hauptstränge des Lebens, einmal geht die Körperbefindlichkeit in die Groteske über, zum anderen entwickelt sich der Literaturbetrieb zu einen gigantischen Fake, worin es keine verlässlichen Aussagen mehr gibt. – Trotz aller Herbheit ein grandioser Zugang, mit dem generellen Verlöschen fertig zu werden.

Piersandro Pallavicini, Ausfahrt Nizza. Roman. A. d. Ital. von Karin Fleischanderl. [Orig.: Romanzo per signora, Mailand 2012].
Wien, Bozen: folio 2014. 295 Seiten. EUR 22,90. ISBN 978-3-85256-641-2.

 

Weiterführende Links:
Folio Verlag: Piersandro Pallavicini, Ausfahrt Nizza
Wikipedia: Piersandro Pallavicini (engl.)

 

Helmuth Schönauer, 28-04-2014

Bibliographie

AutorIn

Piersandro Pallavicini

Buchtitel

Ausfahrt Nizza

Originaltitel

Romanzo per signora

Erscheinungsort

Bozen

Erscheinungsjahr

2014

Verlag

Folio Verlag

Übersetzung

Karin Fleischanderl

Seitenzahl

295

Preis in EUR

22,90

ISBN

978-3-85256-641-2

Kurzbiographie AutorIn

Piersandro Pallavicini, geb. 1962 in Vigevano, lebt in Pavia.