Nobelpreisrede 2005 - Harold Pinter: Kunst, Wahrheit & Politik

Auch in diesem Jahr fand die Verleihung des Literatur-Nobelpreises am 10. Dezember ohne den Preisträger statt. Wie ein Jahr zuvor Elfriede Jelinek, ließ Harold Pinter seine Nobelpreisrede auf Video aufzeichnen. Gezeigt wurde sie bereits am 7. Dezember im Börsensaal der Schwedischen Akademie der Wissenschaften.Was die Gäste dort zu hören bekamen, war das, was sich Pinters Bewunderer erhofft und seine Kritiker befürchtet hatten: die Anklagerede eines Mannes, der sich Zeit seines Lebens politisch engagiert hatte.

Dem schwer von seiner Krebserkrankung gezeichneten Harold Pinter war es nicht möglich seinen Nobelpreis für Literatur selbst in Empfang zu nehmen. Trotz angeschlagener Gesundheit ließ es sich Pinter nicht nehmen, seine Nobelpreisrede, als Videoaufzeichnung nach "Stockholm und in die Welt zu schicken". Im Rollstuhl sitzend und in eine Decke gehüllt, nutzte der für sein politisches Engagement bekannte Autor die ihm gebotene Öffentlichkeit und klagte die gegenwärtige Außenpolitik der USA und Großbritanniens mit deutlichen und scharfen Worten an. Seine Rede hatte - wie zu erwarten war - aber nicht nur Beifall gefunden hat, sondern auch jene wachgerufen, die bereits die Verleihung des Literatur-Nobelpreises an Harold Pinter heftig kritisiert hatten.

Der Schriftsteller Harold Pinters stellt sich mit seinem politischen Engagement in eine Reihe mit Autoren wie z.B. Jean-Paul Sartre oder Pablo Nehruda.

Zu Beginn seiner Rede setzt sich Pinter mit der Suche und der Darstellung von Wirklichkeit und Wahrheit auseinander:

1958 schrieb ich folgendes:

Es gibt keine klaren Unterschiede zwischen dem, was wirklich und dem was unwirklich ist, genauso wenig wie zwischen dem, was wahr und dem was unwahr ist. Etwas ist nicht unbedingt entweder wahr oder unwahr; es kann beides sein, wahr und unwahr.?

Ich halte diese Behauptungen immer noch für plausibel und weiterhin gültig für die Erforschung der Wirklichkeit durch die Kunst. Als Autor halte ich mich daran, aber als Bürger kann ich das nicht. Als Bürger muss ich fragen: Was ist wahr? Was ist unwahr?

Die Wahrheit in einem Theaterstück bleibt immer schwer greifbar. Man findet sie niemals völlig, sucht aber zwanghaft danach. Die Suche ist eindeutig der Antrieb unseres Bemühens. Die Suche ist unsere Aufgabe. Meistens stolpert man im Dunkeln über die Wahrheit, kollidiert damit oder erhascht nur einen flüchtigen Blick oder einen Umriss, der der Wahrheit zu entsprechen scheint, oftmals ohne zu merken, dass dies überhaupt geschehen ist. Die echte Wahrheit aber besteht darin, dass sich in der Dramatik niemals so etwas wie die eine Wahrheit finden lässt. Es existieren viele Wahrheiten. Die Wahrheiten widersprechen, reflektieren, ignorieren und verspotten sich, weichen voreinander zurück, sind füreinander blind. Manchmal spürt man, dass man die Wahrheit eines Moments in der Hand hält, dann gleitet sie einem durch die Finger und ist verschwunden.

Pinter schildert wie seine Stücke oft aus einer Textzeile, einem Wort oder einem Bild entstanden sind und wie darin Personen erschaffen werden, die bis dahin nicht existiert haben und wie diese ihr Eigenleben entwickeln.

[...] Die Sprache in der Kunst bleibt also eine äußerst vieldeutige Angelegenheit, Treibsand oder Trampolin, ein gefrorener Teich, auf dem man, der Autor, jederzeit einbrechen könnte. Aber wie gesagt, die Suche nach der Wahrheit kann nie aufhören. Man kann sie nicht vertagen, sie lässt sich nicht aufschieben. Man muss sich ihr stellen und zwar hier und jetzt.

[...] Politische Sprache, so wie Politiker sie gebrauchen, wagt sich auf keines dieser Gebiete, weil die Mehrheit der Politiker, nach den uns vorliegenden Beweisen, an der Wahrheit kein Interesse hat sondern nur an der Macht und am Erhalt dieser Macht. Damit diese Macht erhalten bleibt, ist es unabdingbar, dass die Menschen unwissend bleiben, dass sie in Unkenntnis der Wahrheit leben, sogar der Wahrheit ihres eigenen Lebens. Es umgibt uns deshalb ein weitverzweigtes Lügengespinst, von dem wir uns nähren.

Wie jeder der hier Anwesenden weiß, lautete die Rechtfertigung für die Invasion des Irak, Saddam Hussein verfüge über ein hoch gefährliches Arsenal an Massenvernichtungswaffen, von denen einige binnen 45 Minuten abgefeuert werden könnten, mit verheerender Wirkung. Man versicherte uns, dies sei wahr. Es war nicht die Wahrheit. Man erzählte uns, der Irak unterhalte Beziehungen zu al-Qaida und trage Mitverantwortung für die Gräuel in New York am 11. September 2001. Man versicherte uns, dies sei wahr. Es war nicht die Wahrheit. Man erzählte uns, der Irak bedrohe die Sicherheit der Welt. Man versicherte uns es sei wahr. Es war nicht die Wahrheit.

Die Wahrheit sieht völlig anders aus. Die Wahrheit hat damit zu tun, wie die Vereinigten Staaten ihre Rolle in der Welt auffassen und wie sie sie verkörpern wollen.

[...] Jeder weiß, was in der Sowjetunion und in ganz Osteuropa während der Nachkriegszeit passierte: die systematische Brutalität, die weit verbreiteten Gräueltaten, die rücksichtslose Unterdrückung eigenständigen Denkens. All dies ist ausführlich dokumentiert und belegt worden.

Aber ich behaupte hier, dass die Verbrechen der USA im selben Zeitraum nur oberflächlich protokolliert, geschweige denn dokumentiert, geschweige denn eingestanden, geschweige denn überhaupt als Verbrechen wahrgenommen worden sind. Ich glaube, dass dies benannt werden muss, und dass die Wahrheit beträchtlichen Einfluss darauf hat, wo die Welt jetzt steht. Trotz gewisser Beschränkungen durch die Existenz der Sowjetunion, machte die weltweite Vorgehensweise der Vereinigten Staaten ihre Überzeugung deutlich, für ihr Handeln völlig freie Hand zu besitzen.


Harold Pinter stellte in seiner Videoansprache die Frage: Wie viele Menschen muss man töten, bis man sich die Bezeichnung verdient hat, ein Massenmörder und Kriegsverbrecher zu sein?

 

Pinter beurteilt die Informationspolitik der USA als Lügengespinst, wodurch es möglich gewesen sei, dass Berichte über die Rolle der USA bei zahlreichen Verbrechen die Ländern wie z.B. El Salvador, Guatemala, Chile, Nicaragua u.a begangen worden sind, in den Medien nicht vorgekommen seien.

[...] Nach dem Ende des 2. Weltkriegs unterstützten die Vereinigten Staaten jede rechtsgerichtete Militärdiktatur auf der Welt, und in vielen Fällen brachten sie sie erst hervor. Ich verweise auf Indonesien, Griechenland, Uruguay, Brasilien, Paraguay, Haiti, die Türkei, die Philippinen, Guatemala, El Salvador und natürlich Chile. Die Schrecken, die Amerika Chile 1973 zufügte, können nie gesühnt und nie verziehen werden.

In diesen Ländern hat es Hunderttausende von Toten gegeben. Hat es sie wirklich gegeben? Und sind sie wirklich alle der US-Außenpolitik zuzuschreiben? Die Antwort lautet ja, es hat sie gegeben, und sie sind der amerikanischen Außenpolitik zuzuschreiben. Aber davon weiß man natürlich nichts.

Es ist nie passiert. Nichts ist jemals passiert. Sogar als es passierte, passierte es nicht. Es spielte keine Rolle. Es interessierte niemand. Die Verbrechen der Vereinigten Staaten waren systematisch, konstant, infam, unbarmherzig, aber nur sehr wenige Menschen haben wirklich darüber gesprochen. Das muss man Amerika lassen. Es hat weltweit eine ziemlich kühl operierende Machtmanipulation betrieben, und sich dabei als Streiter für das universelle Gute gebärdet. Ein glänzender, sogar geistreicher, äußerst erfolgreicher Hypnoseakt.

Ich behaupte, die Vereinigten Staaten ziehen die größte Show der Welt ab, ganz ohne Zweifel. Brutal, gleichgültig, verächtlich und skrupellos, aber auch ausgesprochen clever. Als Handlungsreisende stehen sie ziemlich konkurrenzlos da, und ihr Verkaufsschlager heißt Eigenliebe. Ein echter Renner. Man muss nur all die amerikanischen Präsidenten im Fernsehen die Worte sagen hören: das amerikanische Volk?, wie zum Beispiel in dem Satz: Ich sage dem amerikanischen Volk, es ist an der Zeit, zu beten und die Rechte des amerikanischen Volkes zu verteidigen, und ich bitte das amerikanische Volk, den Schritten ihres Präsidenten zu vertrauen, die er im Auftrag des amerikanischen Volkes unternehmen wird.?

Ein brillanter Trick. Mit Hilfe der Sprache hält man das Denken in Schach. Mit den Worten das amerikanische Volk? wird ein wirklich luxuriöses Kissen zur Beruhigung gebildet. Denken ist überflüssig. Man muss sich nur ins Kissen fallen lassen. Möglicherweise erstickt das Kissen die eigene Intelligenz und das eigene Urteilsvermögen, aber es ist sehr bequem. Das gilt natürlich weder für die 40 Millionen Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, noch für die 2 Millionen Männer und Frauen, die in dem riesigen Gulag von Gefängnissen eingesperrt sind, der sich über die Vereinigten Staaten erstreckt.

[...] Abertausende wenn nicht gar Millionen Menschen in den USA sind nachweislich angewidert, beschämt und erzürnt über das Vorgehen ihrer Regierung, aber so wie die Dinge stehen, stellen sie keine einheitliche politische Macht dar ? noch nicht. Doch die Besorgnis, Unsicherheit und Angst, die wir täglich in den Vereinigten Staaten wachsen sehen können, werden aller Wahrscheinlichkeit nach nicht schwinden.

[...] Das Leben eines Schriftstellers ist ein äußerst verletzliches, fast schutzloses Dasein. Darüber muss man keine Tränen vergießen. Der Schriftsteller trifft seine Wahl und hält daran fest. Es stimmt jedoch, dass man allen Winden ausgesetzt ist, und einige sind wirklich eisig. Man ist auf sich allein gestellt, in exponierter Lage. Man findet keine Zuflucht, keine Deckung ? es sei denn, man lügt ? in diesem Fall hat man sich natürlich selber in Deckung gebracht und ist, so ließe sich argumentieren, Politiker geworden.

Ich habe heute Abend etliche Male vom Tod gesprochen. Ich werde jetzt ein eigenes Gedicht zitieren. Es heißt Tod?.

Wo fand man den Toten?
Wer fand den Toten?
War der Tote tot, als man ihn fand?
Wie fand man den Toten?

Wer war der Tote?

Wer war der Vater oder die Tochter oder der Bruder
Oder der Onkel oder die Schwester oder die Mutter oder der Sohn
Des toten und verlassenen Toten?

War er tot, als er verlassen wurde?
War er verlassen?
Wer hatte ihn verlassen?

War der Tote nackt oder gekleidet für eine Reise?

Warum haben Sie den Toten für tot erklärt?
Haben Sie den Toten für tot erklärt?
Wie gut haben Sie den Toten gekannt?
Woher wussten sie, dass der Tote tot war?

Haben Sie den Toten gewaschen
Haben Sie ihm beide Augen geschlossen
Haben Sie ihn begraben
Haben Sie ihn verlassen
Haben Sie den Toten geküsst?


Das Leben eines Schriftstellers ist ein äußerst verletzliches, fast schutzloses Dasein. Man ist auf sich allein gestellt, in exponierter Lage.

 

Blicken wir in einen Spiegel, dann halten wir das Bild, das uns daraus entgegensieht, für akkurat. Aber bewegt man sich nur einen Millimeter, verändert sich das Bild. Wir sehen im Grunde eine endlose Reihe von Spiegelungen. Aber manchmal muss ein Schriftsteller den Spiegel zerschlagen ? denn von der anderen Seite dieses Spiegels blickt uns die Wahrheit ins Auge.

Ich glaube, dass den existierenden, kolossalen Widrigkeiten zum Trotz die unerschrockene, unbeirrbare, heftige intellektuelle Entschlossenheit, als Bürger die wirkliche Wahrheit unseres Lebens und unserer Gesellschaften zu bestimmen, eine ausschlaggebende Verpflichtung darstellt, die uns allen zufällt. Sie ist in der Tat zwingend notwendig.

Wenn sich diese Entschlossenheit nicht in unserer politischen Vision verkörpert, bleiben wir bar jeder Hoffnung, das wiederherzustellen, was wir schon fast verloren haben ? die Würde des Menschen.

Harodl Pinter: Kunst, Wahrheit & Politik. Übersetzung von Michael Walter.
© DIE NOBELSTIFTUNG 2005 

Sowohl die Videoaufzeichnung als auch die vollständig transkribierte Rede Harold Pinters und deren deutsche Übersetzung finden Sie auf der Homepage der Nobelpreis-Organisation im weiterführenden Link.

Umfassende Informationen zu Harold Pinter finden Sie auf dessen Homepage.

 

 

Weiterführende Links:
Homepage: Harold Pinter
Nobelprize.org: Harold Pinter - Nobel Lecture: Art, Truth and Politics

 

Andreas Markt-Huter, 19-12-2005

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