Alina Herbing, Niemand ist bei den Kälbern

herbing_niemand.jpgSchon von Kinderbüchern an werden wird auf jenes helle Bild hin getrimmt, wie ein Bauernhof auszusehen hat. Und selbst ein Roman über das Leben auf dem Lande löst bei den meisten Lesern in der Erwartung garantiert archetypische Szenen aus.

Was immer man sich als Leser auch darunter vorstellt, was geschieht, wenn niemand bei den Kälbern ist, es ist noch grotesker und noch brutaler, was Alina Herbing da anhand der Heldin Christin vom Land berichtet. Eigentlich ist alles schön, das Land hinter Lübeck ist weit, die Tiere sind im eigenen Interesse auf Hygiene aus und gehen freiwillig in die Melkbox, der Hund Prinz tut alles, um unauffällig bei der Herrschaft Wohlgefallen auszulösen, und in harmonischer Entfernung wummert ein Windrad.

Aber die Verhältnisse stimmen nicht, die Anzahl der Kühe passt nicht zu den verlorenen Melkern, die sie betreuen, das Stroh ist mehr Tarnung als Unterlage, und in das Windrad fliegen ständig seltene Tiere. Das Dorf Schattin ist aus einer LPG-Masse zusammengeschoben worden, viele Grundstücke gehören irgendwelchen Westlern in Hamburg, wer hier überleben will, muss sich das Land zusammenpachten.

Christin läuft in diesem Ambiente ab wie ein Windrad oder eine Melkmaschine, sie ist Mitte zwanzig und zu Jan auf die Melkstation gezogen. „Ins Bett gekrochen, mit Jan geschlafen, dann wieder in den Stall.“ (77) Solche SMS häufen sich, als sie merkt, dass sie abhauen muss.

Da kommt der Windrad-Mann gerade richtig, er wartet das Rad und ersetzt die Kabel, die die Einheimischen regelmäßig klauen. Der erste Fluchtversuch dauert nur eine Nacht. Der Windrad-Mann stellt Christin an der nächsten Tankstelle wieder ab und sie muss reumütig nach Hause stoppen, zurück in den Frust und in die Wortlosigkeit. Das Verhältnis zum Windrad-Menschen entwickelt sich sehr brutal, er drückt nach dem Sex seine Zigarette auf ihr aus, er ist verheiratet, und jetzt, wo das Rad wieder läuft, läuft mit der Beziehung nichts mehr.

Spätestens bei den Teich-Festen lernt man die Bevölkerung so richtig kennen. Alle haben irgendwelchen Dreck am Stecken und man erzählt einander, wer wieder wo was gedreht hat, jeder hat schon einmal mit jeder was gehabt, verlässlicher Freud ist der Alkohol. Christin braucht einen Wodka, aber sie will nicht die erste sein, die danach verlangt. Regelmäßig wird der Hartz-4-Vater besucht, der an guten Tagen seinen Rausch ausschläft und den Besuch unauffällig abwickeln lässt und beschleunigt. Und Jan hat vielleicht was mit dem kaputten Windrad zu tun.

Christin kommt in der alten Scheune ein Brand aus und es brennt die ganze Nacht, den Hund Prinz vergiftet sie, aber er stirbt nur umständlich, und das Kälbchen von Nummer 61 erwürgt sie nach der Geburt, um ihm den Metzger zu ersparen. Als sie zum Jugendfreund abhauen will, wird dieser gerade von der Polizei abgeführt und er meint, „vielleicht ein anderes Mal oder in einem Jahr“.
Die Heldin wird noch einmal aufbrechen, es hat geregnet und alles ist voller Letten. Aber eine alte Trecker-Weisheit aus der Fläche lautet: Nur wenn man zu langsam fährt, bleibt man stecken. - Schockierend witziges Landleben!

Alina Herbing, Niemand ist bei den Kälbern. Innsbruck-liest-Roman 2018
Zürich: Arche Verlag 2017, 254 Seiten, 20,60 €, ISBN 978-3-7160-2762-2

 

Weiterführende Links:
Innsbruck liest 2018
Wikipedia: Alina Herbing
Arche Verlag

 

Helmuth Schönauer, 07-02-2018

Bibliographie

AutorIn

Alina Herbing

Buchtitel

Niemand ist bei den Kälbern

Erscheinungsort

Zürich

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Arche Verlag

Seitenzahl

25420,60

ISBN

978-3-7160-2762-2

Kurzbiographie AutorIn

Alina Herbing, geb. 1984 in Lübeck, lebt in Berlin.