Aram Mattioli, Verlorene Welten

Aram Mattioli, verlorene welten„Die beinahe vollständige Ausrottung der First People gehört zu den zentralen Vorgängen der amerikanischen Geschichte. Zusammen mit dem Kollaps der indianischen Kulturen in Mittel- und Südamerika zählt sie zu den großen Menschheitskatastrophen vor dem 20. Jahrhundert. Das Ausmaß der Zerstörung lässt sich kaum in Worte fassen und auch durch nackte Zahlen nur andeuten ...“ (15)

Die Geschichte der Indianer Nordamerikas zwischen 1700 und 1900 spiegelt ein Bild der physischen und kulturellen Zerstörung der indigenen Bevölkerung Nordamerikas, das in seinem Ausmaß und seiner Wirkung einem Genozid gleichkommt und dem das Überlegenheitsgefühl weißer Europäer zugrunde liegt, das häufig in direkten Rassismus und Indianerhass ausschlagen ist.

In der amerikanischen Geschichte spielen die Indianer, besser als „First People“ (29f) bezeichnete indigene Bevölkerung Nordamerikas keine wesentliche Rolle. Sie scheinen meist nur als Nebendarsteller, als grausame Wilde auf, die sich dem welthistorischen Weg der USA zu Freiheit und Demokratie verweigern und mit Gewalt zu widersetzen versuchen.

In sieben Kapiteln zeichnet Mattioli aus der Sicht der indianischen Nationen Nordamerikas die Entwicklungen und Veränderungen ihrer Lebensräume, Lebensweisen sowie Kontakte und Konflikte mit den europäischen und später amerikanischen Mächten und Siedlern. Im Kapitel „Nordamerika in der ersten Kolonialzeit“ wird zunächst die sehr unterschiedliche Lebensweise der verschiedenen indianischen Nationen kurz skizziert, die von städtischen Handelsgesellschaften in Nordmexiko über ackerbautreibende Dorfgemeinschaften bis hin zu den Lachsfischern des Pazifischen Nordwestens und den Wildbeutern in Kalifornien bewohnt waren.

Bereits die ersten Kontakte mit europäischen Einwanderern brachte Krankheiten und Seuchen nach Amerika, denen die indigene Bevölkerung schutzlos ausgeliefert war und die ursprüngliche Bevölkerung von 5 bis 10 Millionen auf 1,5 Millionen Menschen schrumpfen ließ. Von besonderer Bedeutung für das weitere Leben der Indianer zunächst im Osten der heutigen USA war der Sieg Englands über Frankreich in Amerika im Siebenjährigen Krieg und die damit verbundene Ausweitung der Siedlungstätigkeit englischer Siedler Richtung Osten. Mit der späteren Gründung der USA waren für den Weg Richtung Osten die letzten Grenzen verschwunden.

Im Kapitel „Die weiße Siedlerrepublik und die »Wilden«“ wird der Gegensatz zwischen den aufklärerischen Anschauungen und den modernen Forderungen nach Menschenrechten, Gewaltentrennung und Demokratie der neuen Republik und ihrer Haltung gegenüber den ursprünglichen Eigentümern und Bewohnern des Landes aufgezeigt. Die verschiedenen indianischen Nationen machten sich schon rasch keine Illusionen mehr über den Expansionswillen und Gewaltbereitschaft der neuen Republik.

Im 19. Jahrhundert beginnen die Machtverhältnisse endgültig zu kippen und die Ausdehnung der USA setzen immer mehr indianische Völker unter Druck, was einen Spirale der Gewalt auf beiden Seiten in Gang setzt. In den Kapiteln „Die Umsiedlungsära: Das Projekt des indianerfreien Ostens“ und „Kalifornien in der Goldrauschära“ wird gezeigt, wie der endgültige Niedergang der indianischen Kulturen eingeläutet wird, der auch durch immer wieder aufflammende heftige Gegenwehr durch zahlreiche indianische Nationen nicht aufgehalten werden kann.
Im abschließenden Kapitel „Die Pulverisierungsmaschine und die Erfindung des »Wilden Westens« schildert die „Indianerpolitik“ der USA zu Beginn des 19. Jahrhunderts und die Erfindung des Bilds vom abenteuerlichen „Wilden Westens“ und von den „primitiven, wilden Indianer“ in der beginnenden Massenkultur dieser Zeit.

Aram Mattioli gelingt es in seiner umfangreichen Darstellung des Niedergangs der indianischen Völker und Kulturen Nordamerikas den „First People“ verspätet Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen. Trotz spärlicher Selbstzeugnisse gelingt es Mattioli das Bild vom grausamen, primitiven Wilden zu widerlegen und die fortlaufende Geschichte der Ungerechtigkeit aufzuzeigen, die der indigenen Bevölkerung Nordamerikas über Jahrhunderte widerfahren ist.

Ein überaus empfehlenswertes, lesenswertes und informatives Sachbuch, das der Verschiedenartigkeit der zahlreichen indigenen Völker Nordamerikas ebenso gerecht wird, wie der Abkehr vom Blick auf die Ereignisse aus der Sicht der Europäer oder US-Amerikaner.

Aram Mattioli, Verlorene Welten. Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas 1700-1910, m. zahlr. Karten
Stuttgart: Klett-Cotta Verlag 2017, 464 Seiten, 26,70 €, ISBN 978-3-608-94914-8


Weiterführende Links:
Klett-Cotta Verlag: Aram Mattioli, Verlorene Welten
Wikipedia: Aram Mattioli

 

Andreas Markt-Huter, 20-08-2018

Bibliographie

AutorIn

Aram Mattioli

Buchtitel

Verlorene Welten. Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas 1700-1910

Erscheinungsort

Stuttgart

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Klett-Cotta Verlag

Seitenzahl

464

Preis in EUR

26,70

ISBN

978-3-608-94914-8

Kurzbiographie AutorIn

Aram Mattioli lehrt als Professor für Neueste Geschichte an der Universität Luzern. Er studierte an der Universität Basel Geschichte und Philosophie. International bekannt wurde er durch seine Forschungen zum faschistischen Italien. Seit Jahren beschäftigt er sich mit der Geschichte des indianischen Nordamerika.