Oleg Jurjew, Unbekannte Briefe

Oleg jurjew, unbekannte briefeNirgendwo ist der Eisberg der Wahrnehmung so groß wie in der russischen Literatur. Wir sehen ab und zu die Spitzen von Dostojewski und Tolstoi aus einem Regal aufragen, aber darunter verbirgt sich ein literarischer Kontinent, der flächenmäßig mindestens so groß ist wie ganz Russland. Manche behaupten, an wehmütigen Tagen bestünde Russland zur Gänze aus Literatur.

Oleg Jurjew stößt ironisch hinein in diese Masse ungehobener Schätze, indem er vorgibt, drei unbekannte Briefkonvolute seien ihm zugespielt worden. Diese drei Briefachsen tauchen tief hinunter in die Literaturgeschichte, die mit diesen fiktionalen Briefen neu gedeutet oder überhaupt erst zur Existenz gebracht wird.

Im ersten Brief geht es um Konzepte, die der Avantgardist Dobytschin an den Literaturkritiker Tschukowski richtet. Die Briefe werden beim Errichten eines Außenwerkes von Opel Rüsselsheim in der Nähe von St. Petersburg aufgefunden, als das Sims eines morschen Fensters losbricht. Der Herausgeber sorgt sich um die Rekonstruktion der Post, die bis zu zwanzig Postskripta aufweist, die schon während des Schreibens den Sound des Vergessens in sich tragen. Dabei wird die Sowjetliteratur des Zerfalls dokumentiert, worin als Zeichen der Dekadenz Menschen ihre Gewehre wie Kehrbesen halten. (15)

Der zweite unbekannte Brief stammt vom unbekannten Pryschow, der als Staatsgefangener und Literat an Dostojewski schreibt und sich aufregt, warum eine gewisse Person in den Dämonen nur ungenau seiner Person gleicht. Auch sonst ist der Literat ziemlich angefressen und beklagt, da er selbst nicht aus dem Gefängnis kommt, den schlechten Zustand der Literatur draußen. Immer wieder schickt er auch Verbesserungsvorschläge und Korrekturen über längst etablierte Texte ab. Diese Post wird bei der Schließung der Slawistik-Bibliothek in Frankfurt /M entdeckt, als der Herausgeber Bücher mit nach Hause nimmt, um zu retten, was nicht mehr zu retten ist.

Der dritte Brief wird vom Herausgeber gesucht, als er während der Recherchen zu Jakob M. Lenz auf ein Dokumentationsloch stößt, es fehlt nämlich ein Polizeiprotokoll. Während der Suche taucht freilich ein Brief an den Sentimentalisten Karamsin auf, worin Maßnahmen gegen die Überschwemmung Moskaus aufgezählt sind. Nach der Eindämmung der physikalischen Flut geht es freilich auch um literarische Maßnahmen, da Physik und Fiktion oft nicht zu trennen sind.

Oleg Jurjew setzt mit den unbekannten Briefen eine Erzählkultur fort, die Jorge Luis Borges mit seinen „Ficciones“ eingeleitet hat. Über dem sogenannten erforschten Literaturkosmos wird ein Meta-Kosmos darübergespannt, damit die Fiktionen eine gewisse Plastizität erreichen. Und einen satirischen Erfolg hat diese Art des Erzählens außerdem. Niemand soll sich sicher sein, dass etwas so stimmt, wie es in der Literaturgeschichte steht. Stündlich können unbekannte Briefe auftauchen und alles über den Haufen werfen. - Eine sehr subversive Erzählmethode!

Oleg Jurjew, Unbekannte Briefe. Roman
Berlin: Verbrecher Verlag 2017, 193 Seiten, 22,00 €, ISBN 978-3-95732-233-3


Weiterführende Links:
Verbrecher Verlag: Oleg Jurjew, Unbekannte Briefe
Wikipedia: Oleg Jurjew

 

Helmuth Schönauer, 15-06-2017

Bibliographie

AutorIn

Oleg Jurjew

Buchtitel

Unbekannte Briefe

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Verbrecher Verlag

Seitenzahl

193

Preis in EUR

22,00

ISBN

978-3-95732-233-3

Kurzbiographie AutorIn

Oleg Jurjew, geb. 1959 in Leningrad, lebt seit 1991 in Frankfurt/M.