Tomas Venclova, Der magnetische Norden

tomas venclova, der magnetische nordenÄhnlich dem politischen Adel, dessen Hauptaufgabe darin besteht, untereinander zu heiraten und geheimnisvolle Feste auszurichten, die von einer Kronen-Presse begleitet werden, gibt es auch einen literarischen Adel. Seine Aufgabe besteht in der internationalen Vernetzung, dem Abklappern diverser Lehrstühle und der Weitergabe von Insider-Namen an Verlage quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Tomas Venclova ist vielleicht so ein Literatur-Adeliger, seine Leistung ist überschaubar, 240 Gedichte und drei Stadtführer über Vilnius, aber sein Herumflippen zwischen Vilnius, Moskau und Berkley ist sehenswert. Sein Lebensmotto ist das angenehme Exil.

Es ist selten leicht, außerhalb es eigenen Landes zu leben: Doch das Exil erschafft einen magnetischen Punkt, zu dem man sich hingezogen fühlt wie die Kompassnadel zum Pol. Und zuletzt kann dieser magnetische Punkt zum eigenen werden. (S. 610)

Tomas Venclova leuchtet sowohl als ausgewiesener Sowjet-Literat, als Begleiter der litauischen Helsinki-Gruppe, als litauischer Patriot zwischen den Gezeiten und als Literaturwissenschaftler und Poet in Amerika so heftig aus der Masse litauischer Emigranten heraus, dass bei der Aufarbeitung dieser Stationen ein fettes Buch herauskommt. Die Gespräche mit Ellen Hinsey sind nicht nur ein Stück Insider-Geschichte aus dem literarischen Leben der UdSSR, in ihrer Erzählmethode sind sie auch ein Stück Didaktik. Wie führe ich ein erfolgreiches Leben in eine erfolgreiche Geschichtsschreibung über? Zu diesem Zweck ist ein großer Erinnerungsstrom durch Fragen gegliedert, die nicht der Neugierde sondern ausschließlich der Gliederung dienen.

Das Schicksal hat es offensichtlich immer gut mit Tomas Venclova gemeint, da sein Vater ein hoher Funktionär für den litauischen Sowjet gewesen ist, hat er viel Narrenfreiheit genossen, während andere des Jahrgangs still verschwunden sind. Der Geschichtsschreibung zu erklären, dass man immer bei den Siegern gewesen ist, ist gar nicht so einfach. Am Beispiel des Boris Pasternak sieht man, wie er sich nach Jahrzehnten noch windet um zu sagen, dass die Verfolgung des Pasternak einfach bürokratische Scheiße gewesen ist.

In den Gesprächen geht es vor allem um Lektüre, Übersetzungen, Samisdat und Kollegenschaft. Da es dem Autor leicht fällt, Sprachen zu erlernen, hat er für manche Stoffe das Monopol der Übersetzung ins Litauische und schreibt so die offizielle Literaturgeschichte im Alleingang. Auch die Auswahl der zitierten Lektüre ist geschickt, so dass sie immer vom einzigen relevanten Verlag abgedeckt ist.

Über die Geschichte der Emigration und des Aufbaus einer litauischen Kultur hinaus lässt sich vor allem erfahren, wie ein kleiner Staat die Literatur als Identitätsprogramm der jeweils Herrschenden nützt. An manchen Stellen glaubt man sich in die österreichische Sozialpartnerschafts-Literaturszene versetzt, wenn ausgeschnapst wird, wer welchen Preis und welchen Vorlass kriegt. Somit lässt sich aus der litauischen Literatur-Politik trefflich auf die österreichische schließen.

Der magnetische Norden ist abschließend ein gelungenes Stück Leben, bei dem es nie an der Butter fürs Brot gemangelt hat. Eine Zeitlang soll er sehr beidbeinig getrunken haben, gibt der Glückspilz einmal zu, aber sonst scheint das Leben makellos ausgefallen zu sein.

Tomas Venclova, Der magnetische Norden. Gespräche mit Ellen Hinsey, Erinnerungen, a. d. Amerikan. von Claudia Sinnig [Orig. Titel: Magnetic North, 2016]
Berlin: Suhrkamp Verlag 2017, 651 Seiten, 37,10 €, ISBN 978-3-518-42633-3

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Tomas Venclova, Der magnetische Norden
Wikipedia: Tomas Venclova
Wikipedia: Ellen Hinsey

 

Helmuth Schönauer, 14-07-2017

Bibliographie

AutorIn

Tomas Venclova

Buchtitel

Der magnetische Norden. Gespräche mit Ellen Hinsey, Erinnerungen

Originaltitel

Magnetic North

Erscheinungsort

Berllin

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Suhrkamp Verlag

Übersetzung

Claudia Sinnig

Seitenzahl

651

Preis in EUR

37,10

ISBN

978-3-518-42633-3

Kurzbiographie AutorIn

Tomas Venclova, geb. 1937 in Klaipeda, lebt seit 1977 in den USA.

Ellen Hinsey, geb. 1960 in Boston, lebt in Paris.