Franzobel, Das Floß der Medusa

franzobel, das floss der medusaDie Aufgabe eines ernsthaften Schriftstellers ist es, die Gesellschaft unabhängig von Moden mit aktueller Erzähltechnik vertraut zu machen und sie mit relevanten Themen in alternativen Gedankengängen zu unterstützen.

Franzobel erzählt das „Floß der Medusa“ in einem Kontext, wo in den Nachrichten stündlich gescheiterte Flöße im Mittelmeer vorkommen und „die Leichen wie Brotwürfel in der Suppe treiben“. (434) Die Magie vom Floss der Medusa besteht aus zwei Teilen, aus dem Plot und den Anstrengungen der Künste, dieses Vorkommnis als Mustergeschichte für Aufklärung zu verwenden.

Im Plot geht es darum, dass nach 1816 ein französischer Schiffsverband nach Westafrika segelt, um Geschäfte mit Sklaven zu machen und verlorene Kolonialgebiete erneut in Besitz zu nehmen. Die Fregatte Medusa kommt wegen „Schwächen“ des Kommandos vom Kurs ab und läuft auf Grund. In der Folge bleiben ein paar an Bord, die Offiziere hocken sich in die Rettungsboote und machen sich vom Acker, nachdem sie die Leine zu einem flüchtig gebastelten Floß gekappt haben. Auf dem Floß kommt es schließlich zu Kannibalismus und es tritt die perverse Situation ein, dass Menschenfresser auf einen Kontinent zusteuern, dem sie die Menschenfresserei austreiben wollen.

Als „Erzählung“ löst dieser Vorgang Regierungskrisen und Diskussionen über die Menschenrechte aus. In Peter Weiss berühmter Darstellung in der Ästhetik des Widerstands geht es um den Klassenkampf beim Überleben, denn je nach Kohle sitzen die einen im Boot und die anderen im Floß. Das Wort ausgebootet bekommt hier einen schrägen Glanz.

Franzobel erzählt nun wie ein Chronist, der die Story schon als Videospiel durchgespielt hat, die Sprache des Internets kennt, und um die Metaebenen und Fake-Anteile von Nachrichten Bescheid weiß. Am ehesten gleicht er einem Regisseur, der den Plot in alter Aufmachung verfilmen soll, dessen Regieanweisungen aber aus der Gegenwart kommen bis hin zur Überlegung, wie hätte wohl Walt Disney das Kappen der Taue in seinen Comics dargestellt.

Im Roman tut sich bald etwas Barock-Gewaltiges wie ein Flügelaltar auf, man sieht den Kannibalismus, der übrigens mit dem Auszuzeln von Eiterbeulen beginnt, ehe sich die Hungrigen über das Opfer drübertrauen. Man sieht die völlig verkappten Zustände, wenn jemand sagt, nicht wir sind unmenschlich sondern jene, die zu wenig Rettungsboote gebaut und den fehl-ausgebildeten Kapitän auf das Schiff gelassen haben. Man sieht die Blogs in den Lesehirnen ablaufen, wenn jemand während des Verzehrs von Menschenfleisch sagt, wir müssen menschlich bleiben.

Die Wahrheit ist ein Galgen, an dem immer eine andere Leiche hängt. (581)

Da sich der Autor beharrlich weigert, uns von Zweifeln an der eigenen Lauterkeit zu befreien, indem er die Erzählflächen in einander spiegelt und dabei immer größere Abgründe aufreißt, stehen wir ohne Ablenkung dem Roman gegenüber. Franzobel ist realistisch, wenn er uns in Echtzeit an Bord holt und mithungern lässt, er ist moralisch, wenn er uns verlogene Dialoge bis zum Abwinken vorstellt, er ist zuversichtlich, wenn er beweist, dass es selbst für die größte Ungeheuerlichkeit noch eine Sprache gibt, die einen wahrscheinlich überleben lässt. Franzobels Floß der Medusa ist ein schweres Album aus dem Jahr 2017 für die Nachwelt: „Seht her, wir haben erzählen und lesen können, aber keinen Ausweg gewusst.“

Franzobel, Das Floß der Medusa. Roman
Wien: Zsolnay Verlag 2017, 590 Seiten, 26,80 €, ISBN 978-3-552-05816-3

 

Weiterführende Links:
Zsolnay Verlag: Franzobel, Das Floß der Medusa
Wikipedia: Franzobel

 

Helmuth Schönauer, 16-07-2017

Bibliographie

AutorIn

Franzobel

Buchtitel

Das Floß der Medusa

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Zsolnay Verlag

Seitenzahl

590

Preis in EUR

26,80

ISBN

978-3-552-05816-3

Kurzbiographie AutorIn

Franzobel, geb. 1967 in Vöcklabruck, lebt in Wien.