Andrea Wolfmayr, Ausnüchterung

andrea wolfmayr, ausnüchterungEchte Provinzromane stellen die wichtigen Fragen in regelmäßigen Abständen. „Aber wie war sie um Himmels willen nun hier gelandet?! Müde, abgearbeitet und fett, fett, fett!“ (10)

Nach den euphorisierenden Aufmischer-Romanen „Weiße Mischung“ und „Roter Spritzer“ geht es in „Ausnüchterung“ um ein schnörkelloses Verhältnis zur Realität.

Andrea Wolfmayr spürt im dritten Roman aus der Provinz wieder den Sippschaften im Ort nach, die scheinbar das Sagen haben oder sich ein Überlebensmodell zusammengebastelt haben. Vor der Lektüre des Romans sollte man sich unbedingt den Personalstand der Provinz anschauen, im Nachspann sind ähnlich wie in einer russischen Saga des 19. Jahrhunderts die wichtigsten Stammbäume aufgezeichnet. Dabei springt ins Auge, dass die meisten Rädelsführer eines Clans bereits verstorben sind und nur noch manchmal, wenn es ungemütlich wird, zitiert werden.

Die Hauptstränge bilden Buchhändler- und Kaufmannsdynastien, Nachfahren von Eisenbahnern und Bauern, sowie zugezogenes Personal hauptsächlich aus der Künstler-Szene. Eine wesentliche Rolle spielen auch Tiere, die nicht mehr als Nutztiere gehalten werden, sondern in völlig dekadentem Ritus als Schoßtiere zur Schau gestellt werden.

Zwischen diesen scheinbar gefestigten Strukturen spielt sich nun ein Leben ab, das die Protagonistinnen und Protagonisten vor allem alt werden lässt. Die Zeiten verändern sich raffiniert langsam und beständig, und wenn man zwischendurch einmal aus dem eigenen Seelenfenster hinausschaut, ist alles anders geworden.

Besonders die Buchhandlung mit ihren prekär Angestellten bekommt diese Veränderung zu spüren, die Themen verändern sich, die Lesekultur haut manchmal gänzlich ab, die finanziellen Verhältnisse zwingen zu ständigem Improvisieren, die Inhaberin greift deshalb auch schon früh am Tag zu einem Schluck, um die große Ernüchterung am Nachmittag etwas hinauszuzögern.

Auch die anderen Berufsstandbeine sind jeweils wackelig geworden, Landwirtschaft, Buschenschank, Kaufhaus, Post, alles hat sich verändert, während die Helden noch in alten Narrativen und Anekdoten darüber reden. Und vor allem das Private hat ständig neue Schlingen um die Menschen gelegt. Von Kalifornien bis in die Steiermark ist ein Patchwork-Netz ausgelegt, worin selbst jene gefangen sind, denen die Flucht aus der Provinz gelungen ist.

Andrea Wolfmayr erzählt unermüdlich, indem sie den Kapiteln zuerst ein psychologisches Resümee voranstellt, ehe die Figuren dann die Szene beinhart abarbeiten müssen durch Gespräche, die meist aneinander vorbeigehen.

Es gibt so Tage, an denen ist alles verrückt und nichts funktioniert. So ein Tag ist heute. (110)

Der psychologische Kommentar zu dieser Erkenntnis lautet lapidar: „Barbara fühlt sich überfordert. Da braucht es nicht mehr viel, und das Häferl geht über.“

In der Ausnüchterung kommt letztlich jene Gegenwart, die durch Globalisierung, Illusionsbetrug und Giga-Konsum in diversen Machtzentren definiert wird, an der Peripherie der Gesellschaft an, und vernichtet alle, die jemals einen Traum gehabt haben. - Ein Weltroman aus der Provinz.

Andrea Wolfmayr, Ausnüchterung. Ein dritter Roman aus der Provinz
Graz: Edition Keiper 2017, 350 Seiten, 22,50 €, ISBN 978-3-903144-33-0

 

Weiterführende Links:
Edition Keiper: Andrea Wolfmayr, Ausnüchterung
Wikipedia: Andrea Wolfmayr

 

Helmuth Schönauer, 07-10-2017

Bibliographie

AutorIn

Andrea Wolfmayr

Buchtitel

Ausnüchterung

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Edition Keiper

Reihe

Roman aus der Provinz, Bd. 3

Seitenzahl

350

Preis in EUR

22,50

ISBN

978-3-903144-33-0

Kurzbiographie AutorIn

Andrea Wolfmayr, geb. 1953 in Gleisdorf, lebt in Gleisdorf.