Gerhard Ruiss, Kanzlernachfolgegedichte

gerhard ruiss, kanzlernachfolgegedichteSeit es keinen Kaiser mehr in Österreich gibt, muss der Kanzler für alles Ferne und Entrückte herhalten.

Gerhard Ruiss hat für diese politische Skurrilität das Genre Kanzlergedichte kreiert. In Kanzlergedichten wird der ferne Kanzler angebetet, mit eigenen Worten gefeiert und seine möglichen Gedanken werden ihm selbst ins poetische Gehirn projiziert. Je nach Standpunkt und Ergriffenheit können diese Gedichte als wagemutig, frech und witzig empfunden werden. Sie sind aber auch immer eine leise Verhöhnung des Kanzlerwesens, weil sie ex kathedra intelligenter sind als der Kanzler.

Die Steigerung von Kanzlergedichten sind naturgemäß Kanzlernachfolgegedichte. Weil ja auch seinerzeit bei den Habsburgern der Thronfolger immer intelligenter gewesen ist als der Throninhaber, sind auch die Kanzlernachfolger immer intelligenter als die Kanzler. Die Gedichte haben mit jeder Nachfolge Mühe, das hohe Niveau der diversen Kanzlerschaften zu halten und zu übertreffen.

Die neuen Gedichte saugen ihren Stoff aus den Jahren 2006-2017. Die Reihenfolge ist assoziativ, ein Schlüsselwort kann zu einer politischen Person passen und formt sich zu einer Nachricht aus, die zu einem Gedicht mutiert. Dieses hat ein neues Schlüsselwort und wuchert als Rhizom in den poetischen Untergrund.

In der sogenannten Amtseinführung beschreibt Klaus Zeyringer diese Darstellungsform als „Kompendium der Potemkinschen Worte und Phrase.“ (18) Ein Personenverzeichnis der handelnden Personen wird unterstützt von 75 Marginalien, die das letzte Jahrzehnt zu Randbemerkungen zurechtrücken.

Gerade das Pathos von unterwürfiger Zwergenhaftigkeit gibt Marginalien, Personen und Gedichten einen Schliff, mit dem die politischen Inhalte windschlüpfrig jedes Ungemach überstehen.

Die Zwergenhaftigkeit politischer Strömungen setzt sich beim Kleinen Mann am Küchentisch als unruhiger Bodensatz des Zeitgeistes ab.

„seit du so bist // abends / es fällt / auf ihn das küchentischlicht / vorhänge braucht er nicht / den doppler vor sich / die nacht / ohne aussicht.“ (99)

„Wohin kommen // der mensch braucht ziele / er hat wege.“ (99)

Diesem Schicksal in einer lyrischen Versenkung steht eine Bildungsmarginalie gegenüber, wonach laut Kurier „die Nahtstelle zwischen Unis und Schulen besser ausgebaut werden müsse.“ (98)

Zu dieser Poetik des Widerstandes tragen die Endverbraucher selbst bei. Hohle Parolen, gekrümmte Pressenachrichten und verbogene Träume der Rezipienten schaffen jenen kollektiv-österreichischen Kleingeist, dessen hymnische Ausprägung die Kanzlernachfolgegedichte sind.

Gerhard Ruiss packt den Stoff mit beiden Händen und schaufelt ihn ununterbrochen auf eine Bühne, die zu klein ist für diese großen und großartigen Sätze, die im Land ununterbrochen unterwegs sind. - Poetisch-politische Bildung in Bestform!

Gerhard Ruiss, Kanzlernachfolgegedichte 2006-2017. Mit einem Personenverzeichnis und 75 Marginalien
Wien: Edition Aramo 2017, 193 Seiten, 18,00 €, ISBN 978-3-9502029-3-5

 

Weiterführende Links:
Edition Aramo: Gerhard Ruiss, Kanzlernachfolgegedichte
Wikipedia: Gerhard Ruiss

 

Helmuth Schönauer, 23-11-2017

Bibliographie

AutorIn

Gerhard Ruiss

Buchtitel

Kanzlernachfolgegedichte 2006-2017

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Edition Aramo

Seitenzahl

193

Preis in EUR

18,00

ISBN

978-3-9502029-3-5

Kurzbiographie AutorIn

Gerhard Ruiss, geb. 1951 in Ziersdorf, lebt in Wien.