Serhij Zhadan, Internat

serhij zhadan, internatDie Dramaturgie der Hölle besteht darin, dass es keine Handlung gibt, nur flächendeckendes Kriegsfeuer, das jederzeit an allen Stellen der Stadt ausbrechen kann.

Serhij Zhadan versetzt seinen Helden Pascha in eine ostukrainische Stadt, die halb verwüstet im Not-Modus mehr vegetiert als funktioniert. Geschildert werden drei Tage, die aber eher als symbolische Zeitangabe zu sehen sind. Die Schöpfung wurde ja seinerzeit in sieben Tagen aufgebaut und zerfällt apokalyptisch in drei Tagen.

Pascha ist Lehrer, der wegen einer verkrüppelten Hand nicht an den Kämpfen teilnehmen kann. Er wüsste auch nicht wo und auf welcher Seite, ab und zu trifft er ehemalige Schüler, die mal hier, mal dort, kämpfen. Angeblich steht eine Allround-Offensive bevor, weshalb er seinen Neffen Sascha am anderen Ende der Stadt aus dem Internat heimholen soll. Heimholen ist ein schöner Begriff aus der Vergangenheit, denn in der Gegenwart ist alles zerschossen und aufgebrochen, was Geborgenheit geben könnte.

Auf seiner Expedition kommt Sascha über den kaputten Bahnhof mit Hilfe von Harakiri-Taxifahrern und im Zickzack-Lauf allmählich zum Internat. Die Fronten wechseln stündlich, Ausweise gelten oder auch nicht, eine Auskunft kann glaubwürdig sein oder eine Falle.

Das Internat ist bereits schwer angeschlagen, die Kids und ein paar Erwachsenen versuchen zu überleben, an einen Unterricht ist nicht mehr zu denken. Makaber wirkt die zerschossene Bibliothek als Bildungseinrichtung. Bei ihrer Sprengung ist niemand zu Schaden gekommen, weil die Kinder nicht gerne lesen und glücklicherweise in der Küche gewesen sind. Nicht-Lesen kann also auch in dieser Situation das Leben retten! (107)

Sascha und Pascha sitzen einen Tag lang im Internat fest, ehe jemand eine Ausbruchstour organisiert, der sie sich anschließen. Am „dritten Tag“ also macht sich der Lehrer wieder mit seinem geretteten Neffen auf den Weg nach Hause. Freilich rettet ihm der Junge an manchen Ecken und Enden das Leben, weil es in dieser Welt nicht mehr auf Wissen, sondern auf Instinkte drauf ankommt. Und Überlebensinstinkte haben alle diese Kids, wenn sie es bislang überlebt haben.

Zwischendurch wird ein angeschossener Soldat zu einem Arzt gebracht, dieser operiert bereits ohne Handschuhe und wischt zwischendurch Nachrichten vom Tablet, auf dessen Display blutige Wisch-Koordinaten durchschimmern. Am Abend schließlich tauchen die beiden zu Hause auf, wobei den letzten Teil bereits der Junge als Icherzähler übernimmt. Das Leben geht hoffentlich weiter, solange jemand in Ichform erzählt. Tatsächlich läuft zu Hause der Fernseher wie am Beginn der Reise, der Fernseher gilt als das ewige Licht in untergegangenen Gegenden.

Serhij Zhadan erzählt furios von Krieg, Chaos und Auflösung jeglicher Ordnung. Die einzelnen Partikel sind schön devastierte Gebilde. Alles, was in der Sowjetunion hässlich konstruiert worden ist, ist nach der Zerstörung beinahe schön, als Zeichen kompletter Dekonstruktion. Das Internat ist ein Dauerzustand ohne Weiterentwicklung, Programm oder Grenzen. Überall, wo das Auge hinschaut, ist Internat. Und das Verrückte an diesem Roman ist, dass er auch in sogenannten heilen Gegenden wirkt. Schau mit dem Internatsblick auf deine Straße, und schon siehst du das kaputte Gerippe, auf dem unsere Städte aufgebaut sind!

Serhij Zhadan, Internat. Roman. A. d. Ukrain. von Juri Durkot und Sabine Stöhr. [Orig.: „Internat“, Kiew 2017]
Berlin: Suhrkamp Verlag 2018, 300 Seiten, 22,70 €, ISBN 978-3-518-42805-4

 

Weiterführende Links
Suhrkamp Verlag: Serhij Zhadan, Internat
Wikipedia: Serhij Zhadan

 

Helmuth Schönauer, 17-03-2018

Bibliographie

AutorIn

Serhij Zhadan

Buchtitel

Internat

Originaltitel

Internat

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2018

Verlag

Suhrkamp Verlag

Übersetzung

Juri Durkot / Sabine Stöhr

Seitenzahl

300

Preis in EUR

22,70

ISBN

978-3-518-42805-4

Kurzbiographie AutorIn

Serhij Zhadan, geb. 1974 in Starobilsk, lebt in Charkiw.