Judith Gruber-Rizy, Eines Tages verschwand Karola

judith gruber-rizy, eines tages verschwand karolaDie höchste Erzählkunst muss immer dann aufgebracht werden, wenn es um das Verschwinden geht. Dabei handelt es sich um ein Paradoxon. Je mehr etwas verschwinden soll, umso höher ist der Aufwand an konkreten Sätzen, der das Verschwinden besiegeln soll.

Judith Gruber-Rizy verwendet die Vorgänge rund ums Verschwinden, um dadurch eine halbwegs plastische Biographie in die Gänge zu bekommen. In der Germanistik steht die Verschwindens-Theorie hoch im Kurs, man denke etwa an Alfred Anderschs „Mein Verschwinden in Providence“ oder Gerhard Amanshausers unermüdliche Versuche, das Ich durch Erzählen mundtot und zum Verschwinden zu kriegen.

„Eines Tages verschwand Karola“ lautet die Zauberformel, mit der die Ich-Erzählerin Rosa ihr Leben zu bilanzieren versucht. Es handelt sich dabei um eine essayistische Hilfskonstruktion, mit der sie disparate Ereignisse zusammenzubringen versucht. Aktuell ist für sie eine konstruktive Erzählmethode gefragt, weil sie die Biographie einer Verschütt gegangenen Schauspielerin verfassen soll.

Karola ist eine Bekannte der Erzählerin, die eines Tages verschwunden ist. Eine Zeitlang hat man das so hingenommen, wie man Menschen eben aus dem Auge verliert. Erst als der Fokus auf Karola gerichtet wird, entdecken alle, dass man fast nichts über die Verschwundene weiß, außer dass sie verschwunden ist. Rosa erzählt nämlich ihrer Freundin Antigone vom Verschwinden, und diese definiert die Suche bald einmal zu einer Lebensaufgabe. Rosa steht vor einem doppelten Rätsel, warum ist die eine verschwunden und warum setzt sich die andere so intensiv auf ihre Spuren.

Im Dreiecksverhältnis Verschwundene – Suchende – Erzählende kommen nun die verschiedensten Lebensentwürfe zum Vorschein. In einer losen Such- und Assoziationskette tauchen diverse Liebhaber auf, Rosa ist eine Zeitlang verheiratet und trennt sich dann, der neue Liebhaber hält es zehn Jahre bei ihr aus und findet dann seine Jugendfreundin wieder, die Mutter von Karola entdeckt erst auf Nachfrage, dass sie eine Tochter gehabt hat, die Polizei zuckt zwischendurch die Achseln, denn diese Suche hat nichts mit forensischer Kleinarbeit zu tun.

Wer sucht, braucht ein Bild der Gesuchten, aber dieses Bild ändert sich beinahe täglich. Im Sinne einer großen Gerüchteküche tauchen immer wieder neue Randfiguren auf, geben vielleicht einen kleinen Tipp und verschwinden dann wieder. Dabei spielt die Zeit keine Rolle, so kommt ein Anwalt erst nach Jahren zu einem klärenden Gespräch, um eine stille Affäre von früher zu bereinigen.

Die größte Biographie entsteht wahrscheinlich dadurch, dass es keine handfeste Person dahinter gibt. Karola ist vielleicht eine ideale Frau, die alles erreicht, indem sie nicht da ist.

Und mit der Zeit entsteht sogar etwas wie ein überirdisches Karma, wenn von Karola berichtet wird. Vielleicht ist Karola der Lebenssinn, vielleicht eine Traumfigur, vielleicht ein Gespenst aus dem Unterbewusstsein.

Gegen Ende hat Rosa jedenfalls eine Biographie abgeschlossen und ist sich über ihr Leben ein Stück klarer geworden. Sie genießt es, diese verschiedenen Lebensmöglichkeiten vor den Augen abrollen zu lassen, die es vielleicht ohne Karola gegeben hätte. Denn eines schafft Karola in ihrer „Verschwundenheit“: Sie bringt Ordnung in die suchenden Personen.

Vielleicht wird ihre Leiche nie gefunden, heißt es lapidar. Aber das ist auch gar nicht notwendig. Wir sind bei diesem subtilen Roman ja nicht in einem Krimi!

Judith Gruber-Rizy, Eines Tages verschwand Karola. Roman
Wien: Wortreich Verlag 2018, 264 Seiten, 19,90 €, ISBN 978-3-903091-43-6

 

Weiterführende Links:
Wortreich Verlag: Judith Gruber-Rizy, Eines Tages verschwand Karola
Wikipedia: Judith Gruber-Rizy

 

Helmuth Schönauer, 12-06-2018

Bibliographie

AutorIn

Judith Gruber-Rizy

Buchtitel

Eines Tages verschwand Karola

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2018

Verlag

Wortreich Verlag

Seitenzahl

264

Preis in EUR

19,90

ISBN

978-3-903091-43-6

Kurzbiographie AutorIn

Judith Gruber-Rizy, geb. 1952 in Oberösterreich, lebt in Wien und Oberösterreich.