Oksana Sabuschko, Der lange Abschied von der Angst

oksana sabuschko, der lange abschied von der angstWenn man schon von Nationalliteratur spricht, die ein Land retten und aufrichten kann, dann müsste man diese Literatur fallweise therapieren und auf Reha schicken, wenn sie krank oder deprimiert ist.

Oksana Sabuschko nimmt einen Terroranschlag in Paris zum Anlass, um anhand von öffentlichen Gefühlen den Zustand der französischen und ukrainischen Angstbewältigung in Diskussion zu stellen. Nach den diversen Revolutionen in der Ukraine stellt die Autorin fest, dass das Kernthema allmählich öffentlich diskutiert wird. Die Kolonialisierung der Ukraine durch die Sowjetunion hat nämlich über Generationen hinweg zu Angst und dem Lefortowo-Syndrom geführt, benannt nach dem berüchtigten Moskauer Gefängnis.

Die ukrainische Gesellschaft ist angesichts der Vorgänge im Donbass und der Annexion der Krim durch Russland allmählich bereit, die Angst abzuschütteln und zu einem nationalen Selbstbewusstsein zu finden. Das würde auch eine neue nationale Literatur erfordern, die sich um die Ukraine als Ganzes kümmert und nicht der Versuchung unterliegt, sich mit der überschaubaren Ukraine polnischer Adeliger oder österreichischer Habsburger abzufinden und diese gar zu besingen.

Diesem Modell der Angstbewältigung der Unterdrückten steht die Kolonialmacht Frankreich als Gegenbeispiel gegenüber. Dieses Frankreich ist nämlich während der Nazi-Zeit selbst zu einem unterdrückten Land geworden und hat diese Zeit in der Hauptsache mit Kollaboration über die Runden gebracht. Während die Ukraine mit dem Holodomor in die Weltgeschichte eingegangen ist, hat sich Frankreich mit Brot und Wein den Besatzern angedienert.

Eine literarische Bewältigung dieser Zeit ist in Frankreich lange ausgeblieben, erst in jüngster Zeit bringt ein Autor wie Houellebecq mit seiner Unterwerfung alle auf die Palme. Eine Angstdiskussion ist auch während der jüngsten Terroranschläge kein Thema, weil offensichtlich das Savoir vivre alles überstrahlt.

Einen interessanten Fall der Vergangenheitsbewältigung ohne Angst nimmt die Österreichische Literatur ein. Thomas Bernhard oder Elfriede Jelinek operieren dabei den Staat am offenen Herzen und wühlen schon mal genüsslich in seinen Eingeweiden.

Oksana Sabuschko verkleidet diese Thesen in einem höflichen Frankreichbesuch, bei dem sie ihr Werk in französischer Übersetzung vorstellt. Ihre Auseinandersetzung mit der Ukraine fußt dabei auf Neuland, sie benimmt sich als Forscherin probehalber so, als ob die Ukraine ein weißer Fleck wäre, der erst mit Sinn und Selbstbewusstsein ausgestattet werden muss. So erklärt sich auch ihr berühmter Roman „Feldstudien über den ukrainischen Sex“, der der Frage nachgeht, warum es berühmte Stellungen wie die Missionarsstellung und das Französische gibt, aber nichts Ukrainisches.

Ein Glossar erklärt die wichtigsten Protagonisten des Essays, der vor allem eines vermittelt: Mit so einer Literatur im Hintergrund braucht die Ukraine nie mehr Angst zu haben, keine Nation zu sein.

Oksana Sabuschko, Der lange Abschied von der Angst. A. d. Ukrain. von Alexander Kratochvil
Graz: Droschl Verlag 2018, 63 Seiten (= Essay 70), 13,00 €, ISBN 978-3-99059-016-4

 

Weiterführende Links:
Droschl Verlag: Oksana Sabuschko, Der lange Abschied von der Angst
Wikipedia: Oksana Sabuschko

 

Helmuth Schönauer, 11-08-2018

Bibliographie

AutorIn

Oksana Sabuschko

Buchtitel

Der lange Abschied von der Angst

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2018

Verlag

Droschl Verlag

Übersetzung

Alexander Kratochvil

Seitenzahl

63

Preis in EUR

13,00

ISBN

978-3-99059-016-4

Kurzbiographie AutorIn

Oksana Sabuschko, geb. 1960 in Luzk, lebt in Kiew.