Zsuzsa Selyem, Regen in Moskau
Wenn einem eine Geschichte schon Haltegriffe in Gestalt von Ortsnamen und Zeitangaben in den Beipackzettel steckt, dann sollte man diese Angaben nicht ignorieren. Diese äußeren Angaben sind kleine Guckfenster, um dadurch ins Innere der Erzählung zu schauen, die unter hohem Druck steht und wie in einem Reaktor mannigfaltige historische Prozesse ablaufen lässt.
Zsuzsa Selyem beschreibt unter dem poetischen Titel „Regen in Moskau“ eine Geschichte von Zwangsmobilität, Glückssuche und Sich-zurechtfinden mit dem Faktischen. Allein schon der Erzählstandpunkt ist irritierend, neben betroffenen Aussiedlern, Wachpersonal und historischen Funktionären ist es das Ungeziefer, das erzählt. Immer wieder berichtet jemand von der Eiablage, und wie er oder sie dann von der Wand herunter sind und diesen oder jenen gestochen haben, um ihm ein wenig Blut abzusaugen.
Diese Innenwelt der Baracken und hygienisch bedenklichen Zustände ist quer über den Kontinent verteilt, dabei bilden sich Hotspots der Migration heraus. Von Amsterdam, über Hiroschima, Rumänien, Georgien bis Washington sind unter dem lapidaren Begriff „Ortsangaben“ alle Knotenpunkte und Verknüpfungszentralen angegeben. Nimmt man die Orte als Ausgangspunkt für ein Netzwerk, so zeigt sich allmählich eine weitverzweigte Verwandtschaft, wo ständig alle unterwegs sind, teils freiwillig, teils als Spielball der Politik. Und ein hell imaginierter Zustand wie Regen in Moskau kann auch ein Ort der Vernichtung sein, wenn das Regime an dieser Stelle gerade eine vernichtende Ausbuchtung angelegt hat.
Die Erzählung ist in elf Sequenzen aufgeschnitten, die jeweils einen öffentlichen Vorgang mit einer fix verankerten Erinnerungsjahreszahl verbinden. Jagd 1947 etwa verheißt nichts Gutes, die Minister der historischen Brache nach dem Weltkrieg versammeln sich zu einer Treibjagd, bei der zwischen Mensch und Tier kein Unterschied gemacht wird. Während dieser Vorgänge auf Leben und Tod kommen auch frühere Todeserlebnisse zum Vorschein, die Familie arbeitet über Jahrzehnte mit dem Unterbewusstsein und hat ein Depot an Verdrängungen angelegt, um das alles auszuhalten. Vom Großvater wird berichtet, dass er schon 1927 mit den Faschisten in Schlagdistanz gekommen ist und die Überlebensparole ausgegeben hat:
Egal wer kann uns keinen Tritt versetzen. (34)
Der „Geistesterror“ 1945 macht sich als Volksgericht Luft und in dieser tödlichen Atmosphäre sind es die Fliegen die zu erzählen beginnen und sich wundern, was mit dem Menschenfleisch alles geschieht.
Aber auch bei den untertänigen Tieren ist nicht immer alles klar, „ich weiß nicht, wessen Larve ich bin“ (73) sagt jemand um 1952 herum und tröstet sich mit dem Kalenderspruch:
Jeder hat sein eigenes Drama.
Die einzelnen Erzählbecken voller Dunkelheit, Stalinismus, Säuberung und Aussiedlung arbeiten sich allmählich an die Gegenwart heran wie eine Ansammlung von Klärbecken, die gegen die Schwerkraft aufgestellt sind. Am eisernen Tor schließlich wird um 1989 so etwas wie die neue Freiheit besungen, und als Sinnbild für die Veränderung dient ein modernes sowjetisches Atomkraftwerk, das über Nacht alt, gefährlich und zerbrechlich wird.
In der Gegenwart springt das Ich als Eichhörnchen durch den Wald und sucht Halt zwischen den Stämmen, denen allerdings nicht zu trauen ist.
Zsuzsa Selyem erzählt die Überlebensgeschichte von Helden, die zufällig ins historische Räderwerk gelangt sind und nur sporadisch daraus wieder hervorkommen. Indem alle historischen Begebenheiten aus der Sicht von Tieren, Außenseitern oder Befehlsempfängern dokumentiert sind, entsteht eine Geschichte von Zufallsmutanten, die nur durch Glück und Anpassung das jeweilige Regime durchtauchen können, zäh wie ein Insekt oder submissiv wie der sprichwörtliche Schäferhund.
Zsuzsa Selyem, Regen in Moskau. Die Geschichte einer Aussiedlung, a. d. Ungar. von Eva Zador [Orig.: Moszkvában esik, Budapest 2016]
Wien: Nischen Verlag 2018, 113 Seiten, 19,00 €, ISBN 978-3-9503906-6-7
Weiterführende Links:
Nischen Verlag: Bücher
Homepage Zsuzsa Selyem
Helmuth Schönauer, 18-09-2018