Paul Theroux, Mutterland

paul theroux, mutterlandMutterland klingt ähnlich wie Muttertag sehr kämpferisch gutmeinend und kann letztlich nur mit Sarkasmus beschrieben werden. Mutterland ist auf den ersten Blick auch das gegenderte Vaterland, das mit einem patriotischen Weichzeichner porträtiert wird.

Paul Theroux platziert um eine Über-Mutter herum eine fette Familiensaga. Insgesamt sieben Kinder sitzen wie die sieben Zwerge um die Mutter herum und stellen einen Ausschnitt von der Welt dar. Die Berufe Advokat, Lehrerin, Diplomat, Krankenpfleger, Professor und Schriftsteller sind artig vertreten, alle wirken und werken im Geiste der Mutter, um die sie regelmäßig aufgepflanzt sind. Das Lieblingskind der Mutter freilich ist Angela, sie ist schon verstorben und mit ihr kann man so herrlich schön ins Jenseits beten. Am Ende der Beliebtheitsskala steht naturgemäß der Ich-Erzähler, der als Schriftsteller nicht immer alles für bare Münze nimmt. Und außerdem legt er sich immer mit seinem Professoren-Bruder an, der in Stunden der Depression mit Lyrik herumdilettiert und schlechten Geschmack verbreitet.

Der Roman setzt mit dem Tod des Vaters ein, baut die Mutter dann zu einer prächtigen Intrigantin und Prinzessin aus und lässt sie als Hundertzweijährige sterben, gerade als die Kinder selber mit dem Sterben beginnen.

Die Familie zeigt sich als amerikanisches Konglomerat, das sich einerseits aus den eingewanderten Sippen rekonstruiert und mit einer historischen Legitimation ausstattet, andererseits ist diese Familie die berühmte politische Urzelle des Staates, worin alles entwickelt wird, was später Trump und Merkel als Mutter und Vater auf der Weltbühne ausspielen.

Die einzelnen Sequenzen verraten etwas vom kapitalistischen Familienverbund, der in der Hauptsache Geschäfte macht und ein Imperium an Geschichten am Leben erhält, wie verlogen diese auch sein mögen.

„Mutter wusste zu Lebzeiten des Vaters nie, was er dachte, weshalb er auch der Stärkere war.“ Nach dem Tod eignet sie sich diese schlitzohrige Denkweise an und lässt alle ins Leere laufen. In der Idealszene sitzt Mutter im Sessel und schickt die erwachsenen Kinder zu diversen Ärzten, nachdem sie ihnen eine Krankheit angedichtet oder implementiert hat, sie bestimmt berufliche Entscheidungen und sagt auch, wann es Zeit ist zu heiraten und am Nachwuchs zu arbeiten.

Mutters Bosheit ist aus keinem Keim erwachsen. (178)
Geld war Liebe. In einem Heptagramm waren die Gelder für die sieben Kinder verzeichnet. (387)
In Mutterland hörte niemand zu und nichts war neu. (550)

Der Erzähler kommt nicht los von dieser Bindung, selbst in den entlegensten Gegenden und in den tiefsten Romanen wird er plötzlich durch eine Kleinigkeit an das Spinnennetz erinnert, worin die Mutter sitzt und den Kids ein Leben lang die Lebensfreude aussaugt. Ihre Herrschaft geht auch im Arcadia weiter, worin Mutter die letzten Jahre verbringt. Die Besuche in diesem Altersheim sind genauso ritualisiert, wie zuerst ein halbes Jahrhundert lang in Mutterland.

Als der Held diese satte Saga heruntererzählt hat, ist ziemlich geschafft, aber nicht fertig. Man kann auch schöne Wörter um ein totes Verhältnis machen, und man kann mit synthetischen Geschichten ein Leben vorgaukeln.
Die wahre Dynamik entfaltet der Roman freilich, wenn man ihn über seinen fiktionalen Plot hinaus liest und sich etwa das Weiße Haus vorstellt, wie alle um die blonde Frisur herumsitzen und nicht frei kommen, oder um die deutsche Kanzlerin Merkl herumtanzen nach dem Motto: „Wir waren alt, Mutter war alterslos.“ (602) – Ein süffisanter Politroman, wenn man diese Leseweise zulässt.

Paul Theroux, Mutterland. Roman. A. d. Amerikan. von Theda Krohm-Linke [Orig.: Mother Land, New York 2017.]
Hamburg: Hoffmann & Campe Verlag 2018, 652 Seiten, 28,80 €, ISBN 978-3-455-00290-4

 

Weiterführende Links:
Hoffmann & Campe Verlag: Paul Theroux, Mutterland
Wikipedia: Paul Theroux

 

Helmuth Schönauer, 10-09-2018

Bibliographie

AutorIn

Paul Theroux

Buchtitel

Mutterland

Originaltitel

Mother Land

Erscheinungsort

Hamburg

Erscheinungsjahr

2018

Verlag

Hoffmann & Campe Verlag

Übersetzung

Theda Krohm-Linke

Seitenzahl

652

Preis in EUR

28,80

ISBN

978-3-455-00290-4

Kurzbiographie AutorIn

Paul Theroux, geb. 1941 in Medford / Massachusetts, lebt auf Hawaii.