Carolina Schutti, Patagonien

caroline schutti, patagonienManche Gegenden dienen nicht nur Reiseführern zum Austoben, sie ziehen oft eine eigene Literaturform nach sich. So sprechen wir von Gebirgsliteratur, wenn erhabenes Gestein als Grundlage für tiefgehende Psychosen dienen soll, von Sibirienliteratur, wenn es um Verbannung, Kriegsgefangenschaft oder Schamanen geht, und von Patagonienliteratur, wenn das Ende der Welt eine Rolle spielen soll.

Carolina Schutti baut ihre Texte von vornherein kunstvoll zu einem Sprachereignis auf, und erst in zweiter Linie liefert dieses Textkunstwerk etwas, was einer imaginierten Wirklichkeit entsprechen könnte. Patagonien ist somit kein Reiseführer und keine Erzählung, die in Patagonien spielt, sondern ein Schachbrett am Ende der Welt, auf dem in äußerst reduzierter Form Alltagsgegenstände und Alltagspersonen auftreten.

Im Vorspann sind geziert-zufällig Bilder, Scherben und Splitter ausgestreut:

Ein rostiger Nagel. Ein Haus. Ein Camp. Ein Wasserrad. Eine Sauna. Ein Dach. / Eine Landschaft, in der ein zweites Leben begonnen werden soll. (5)

Diesen Fetischen der Kargheit entsprechen vage die ausgesetzten Personen, sie haben Namen wie Ben, Iris, Sarah oder Johannes, sie haben sich alle selbst aus dem Nest der Zivilisation genommen und sind ans Ende der Welt gezogen, wo sogar „die Vögel rückwärts fliegen“. (43)

Die Helden führen eine Art Logbuch, das aber bald einmal an seine Grenzen gerät, da es so gut wie nichts gibt, was man aufschreiben könnte. „Wie einfach kann es sein, seinem alten Leben davonzulaufen.“ (10) Ständig drängen Erlebnisfetzen aus dem früheren Leben ins Nicht-Geschehen und bewirken nichts, denn für eine Veränderung ist es zu spät und eine Analyse früherer Verhältnisse bleibt sinnlos. Verlässlich baut sich zum Endzeitwetter, das in Patagonien jeden Tag vorbeischaut, auch eine Endzeitstimmung auf, die weder Vergangenheit noch Zukunft hat.

Obwohl der äußere Rahmen keine Bedeutung haben sollte, spielt er für die Aussteiger nun die Hauptrolle. Gefragt sind handwerkliches Können und Überlebenswillen, alles andere ist Luxus der Psychologie. Das Dorf hat die letzten Touristen abgeschüttelt und prompt gehen sich Heldinnen und Helden auf die Nerven, so sehr sie sich auch aus dem Weg gehen.

Zwischendurch gibt es dieses romantische Zelebrieren der Sprechunmöglichkeit, wie die Germanisten es von „Lenz im Gebirg“ her kennen. „Wer so still ist, birgt ein Geheimnis.“ (60) Langsam wird es Zeit für Weltende-Sex. Eine Heldin drapiert den Körper für eine erotische Begegnung, sie hat ein deutlich sichtbares Handicap, eine schwere Entstellung durch Verbrühen. Der Held muss notgedrungenermaßen nachfragen, was es mit dieser Wunde auf sich hat. So lässt sich die Geschichte endlich einmal erzählen. Jetzt gibt es das nächste Problem, eine Beinprothese aus Karbon bekommt einen Riss, was in dieser Gegend das Lauf-Ende bedeutet. Der Tagesablauf geht allmählich in eine Evakuierung über, Lebensgefahr breitet sich aus.

Auszeit, was für ein Wort! (89)

Das Ende der Welt lässt sich nicht mir nichts dir nichts verlassen. Den Zollbeamten macht die Prothese jedenfalls stutzig und er lässt sie bei der Einreise in die Zivilisation abmontieren, weil er darin ein Drogenversteck vermutet. Für jemanden, der gerade mit dem Leben davongekommen ist, eine schöne Aufnahmeprüfung durch die Bürokratie.

Carolina Schuttis „Patagonien“ ist ein Roman voller Grenzerfahrungen. Die Figuren sind aufgestellt wie bei einer Familienaufstellung für das Jenseits. Die Rollen sind zufällig ausgegeben und gleichzeitig belanglos, das System Random grüßt. Wenn die Rollen auf herumstreunende Körper reduziert sind, wird jeglicher Text lächerlich, den sie aufsagen. Eine Reparatur kaputter Sachen und Verhältnisse kann nicht dadurch gelingen, dass man sie dem Unwetter am Ende der Vegetation aussetzt.

Patagonien ist literarisch gesehen ein Ideales Reagenzglas, worin sich die Schicksale zusammenmixen lassen ohne Aussicht auf Erlösung. Patagonien wird zu einer Station der Purgatio, wenn es nicht so verdammt kalt wäre, könnte man sogar von Fegefeuer sprechen.

Carolina Schutti, Patagonien. Roman
Innsbruck: Edition Laurin 2020, 130 Seiten, 18,90 €, ISBN 978-3-902866-85-1

 

Weiterführende Links:
Edition Laurin: Carolina Schutti, Patagonien
Wikipedia: Carolina Schutti

 

Helmuth Schönauer, 12-05-2021

Bibliographie

AutorIn

Carolina Schutti

Buchtitel

Patagonien

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2020

Verlag

Edition Laurin

Seitenzahl

130

Preis in EUR

18,90

ISBN

978-3-902866-85-1

Kurzbiographie AutorIn

Carolina Schutti, geb. 1976 in Innsbruck, lebt in Innsbruck.