Johannes J. Voskuil, Der Tod des Marteen Koning

johannes voskuil, der tod des martin koningIn einem Biologen-Witz werden die Fische in Süßwasser- und Meerwasser-Tiere eingeteilt, die Menschen hingegen in Sauerstoff- und Büroluft-Atmer. Das Büro ist dabei ein eigenes Biotop, in dem alle lebensnotwendigen Zutaten künstlich hergestellt werden müssen. Physikalisch lässt sich ein Büro mit einem Raumschiff vergleichen, das mit vollendeter Schwerkraftlosigkeit an Bord durch das Weltall zischt, bis es verglüht.

Johannes J. Voskuils Kosmos „Das Büro“ glüht in seinem siebten Teil seinem Ende entgegen. Vor sechs Bänden ist Marteen Koning zufällig an einem Amsterdamer Volkskunde-Institut vorbeispaziert und tatsächlich eingestellt worden.

In den vier Jahrzehnten seither hat er allerhand sprachliche Eigenheiten der Landbevölkerung analysiert, die Verteilung von Wichtelmännchen im Volksgut kartographiert und unendlich viele Aufsätze geschrieben oder rezensiert. Besonders anstrengend sind immer die Kongresse, bei denen man oft damit rechnen muss, dass die eigene Unzulänglichkeit auffällt. Denn das Büro geht stets eigene Wege, manche nennen es auch Eigenbrötelei. Und das Unglücksschwert der Kürzung oder Rationalisierung schwebt seit ewigen Zeiten über der Bürotruppe, die sich hauptsächlich biologisch verjüngt. Viele ehemalige Mitarbeiter sind schon verstorben. Und besonders der legendäre Direktor, der noch ein paar miese Jahre mit einem Schlaganfall hat mitmachen müssen, hat den Helden Maarten Koning stark geprägt, ehe er selbst Direktor geworden ist.

Jetzt hat der Held alles ihm zustehende Glück der Welt zusammengekratzt und ist in Frührente gegangen. Schon nach einer halben Stunde fragt ihn der erste, wie er sich so in Rente fühle.

Der Start in die Rente verläuft unglücklich wie das Arbeitsleben. Die Frau räumt mit dem Angebot auf, das Geschirr aufzuräumen, weil es sich dabei ja um keine Wichtelmännchen handle. Vor der Tür trifft er auf eine Kuh, die ihn in Todesangst anstarrt, sie ist entkommen und wird von einer landwirtschaftlichen Horde gejagt, wie er einst alte Gerätschaften gejagt hat. Und weil gerade Post aus Dienstzeiten gekommen ist, versucht er diese persönlich im Institut abzugeben. Aber der Portier ist ausgetauscht und kennt ihn nicht mehr, und auch die anderen ehemaligen Mitarbeiterinnen sind nicht gerade amused.

Jetzt, wo du weg bist, muss alles verändert werden. (71)

Zu Hause ist alles gut in Schuss, weil seine Frau schon seit Jahrzehnten das Häuschen im Griff hat. Als sie einmal sagt, dass es nett ist, streiten sie gleich, was nett ist. Der pensionierte Volkskundler hat nämlich ein Leben lang darüber geforscht, was die Menschen an ihren Wichtelmännchen nett gefunden hätten.

Überhaupt zerfällt die Welt in lauter unzusammenhängende Belanglosigkeiten. Wenn Maarten mit dem Rad unterwegs ist oder zu Fuß zum A-Markt schlendert, klaubt er wohl Eindrücke zusammen mit seinen Sinnen, aber es sind eher Pixel, die kaum ein Bild ergeben. Ab und zu wird er smalltalkmäßig jäh nach der Pension gefragt und er sagt, dass er viel beschäftigt sei, etwa mit Tagebuchschreiben.

Hast du viel zu schreiben? - Nein. (78)

Mittendrin ist Jahreswechsel, das Jahr 1988 wird am Kalender aufgezogen, und er schaut wieder einmal im Büro vorbei, wo er den Nachfolger besucht. Dieser ist Religionswissenschaftler mit Volkskunde-Aspekte und eigentlich kein echter Wissenschaftler. Er wird alles kaputt machen, befürchtet der Held und beschließt, auch aus den letzten Kommissionen auszuscheiden, in denen er seit einem halben Leben sitzt.

Ich habe keine Macht. Ich vertrete nichts mehr. (157)

„Plötzlich war es Herbst.“ Und dann kommt auch schon 1989, es wird das letzte Jahr sein.

Im Büro haben sie ihm alles weggeräumt, selbst der berühmte Schreibtisch seines Vorgängers, an dem er sich ein Leben lang passiv und schließlich als Chef aktiv aufgerichtet hat, ist verschwunden und einem beliebigen Ex-Kollegen zugeteilt.

Seine Frau: Wie furchtbar du aussiehst! Er: Ich war im Büro. (229)

Zu allem Überfluss erfährt er, wie man diverse Ex-Mitarbeiter aus dem Institut gemobbt hat. Und er selbst kriegt nicht einmal einen Sitzplatz, als er sich bei der Kommission verabschieden lässt, er muss am Flur warten, bis die Zeremonie rasch abgewickelt werden kann. Es gilt die Faustregel, wonach eine Wahrnehmung, die ein Leben lang auf das Büro kalibriert ist, zusammensackt, wenn kein Büro mehr da ist.

In der großen Literaturgeschichte gilt der Tod von Rih, als die ergreifendste Szene. Im letzten Band von Karl Mays „Durch-die-Wüste-Drama“ wird nämlich auf den letzten Seiten das Wunderpferd Rih erschossen und anschließend aufrecht stehend begraben. Jeder, der das in der Kindheit gelesen hat, berichtet noch heute, wie er und sie damals geweint haben.

Marteen Koning kommt zumindest auf Büro-Ebene beim Leser spielend an diesen Schmerz mit Tränengefahr heran.

„Ihm träumte, dass er zu Grabe getragen würde. Von weit her kamen die letzten Töne von Nobody Knows When You‘re Down and Out aus dem Sopransaxofon von Sidney Bechet, wie er sie zu Lebzeiten Hunderte von Malen gehört hatte. Danach vernahm er nur noch das Knirschen der Schuhe der Sargträger auf dem Kies und spürte das sanfte Auf und Ab des Sarges auf ihren Schultern. Sie blieben stehen. Der Sarg wurde auf den Boden gestellt. Da war das Geräusch vieler Schuhe, danach Stille und ein leises Gemurmel, worauf sich die Schritte entfernten. Er stieß den Deckel seines Sarges auf, richtete sich auf und sah ihnen nach. Sie entfernten sich von ihm auf dem Weg Richtung Ausgang. Er suchte nach Bekannten, doch die, die hinten im Zug gingen, kannte er nicht, und die, die vorn waren, konnte er schon nicht mehr erkennen. Während er den Sargdeckel langsam wieder fallen ließ, wurde er wach, überschwemmt von einem Gefühl uferloser Traurigkeit.“ (247)

Johannes J. Voskuil, Der Tod des Marteen Koning. Roman, aus d. Reihe: Das Büro 7, a. d. Niederl. von Gerd Busse [Orig.: Het bureau 7; De dood van Maarten Koning, Amsterdam 2000]
Berlin: Verbrecher Verlag 2017, 252 Seiten, 24,00 €, ISBN 978-3-95732-012-4

 

Weiterführende Links:
Verbrecher Verlag: Johannes J. Voskuil, Der Tod des Marteen Koning. Das Büro 7
Wikipedia: J. J. Voskuil

 

Helmuth Schönauer, 28-12-2018

Bibliographie

AutorIn

Johannes J. Voskuil

Buchtitel

Der Tod des Marteen Koning

Originaltitel

De dood van Maarten Koning

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Verbrecher Verlag

Reihe

Das Büro 7

Übersetzung

Gerd Busse

Seitenzahl

252

Preis in EUR

24,00

ISBN

978-3-95732-012-4

Kurzbiographie AutorIn

Johannes J. Voskuil, geb. 1926, schied am Tag der Arbeit 2008 freiwillig aus dem Leben.