Carsten Otte, Schweineöde
"Das ist ein Privileg der Einheimischen: Schweineöde sagen zu dürfen statt Schöneweide." (62) Irgendwo an der Peripherie von Berlin liegt dieser seltsame Ort, der das Privileg hat, Kulisse für das absolute Nichts zu sein.
Aber nicht nur der Ort ist gut aufgehoben im Nirwana zwischen Stadt und Land, auch die Zeit ist so bedeutungslos, dass in der Geschichtsschreibung kaum eine Seite voll werden wird mit diesen Ereignislosigkeiten.
Die Story hat etwas von der Strandung eines Robinson Crusoe in sich selbst. Raimund Kuballa hat eine formidable Erbschaft zu Lebzeiten gemacht, seine Eltern führen ein Toprestaurant für große Tiere in der Umgebung von Bonn. Jetzt um 1992, wo Bonn entzaubert wird, ist es nur logisch, dass Kuballa in jene Gegend zieht, die als Niemandsland zwischen Ost und West ohne Zukunft brach liegt.
Also zieht es Kuballa nach Schöneweide und er bleibt dort eine satte Erlebnisepoche lang bis zum Ende des Jahrtausends. Das Fitnes-Studio der Ossis ist ein aufgelassenes Kalibergwerk, in dem es sich in trockener Luft wochenlang unterirdisch herum radeln läßt.
Solcherart gestählt kümmert sich Kuballa um die Geschichtsträger von Schweineöde. Einer hat frisch das ehemalige DDR-Stigma für informelle Mitarbeiter auf die Stirn tätowiert und nennt sich ?IM?. Eine ehemalige Pionierin gibt zwischendurch ihren Hormonen freien Lauf, und für eine Frau, die ständig in Jeansröcken herum rennt, ist sie zu erstaunlich gutem Sex fähig.
Ein pensionierter General der Volksarmee sorgt für den notwendigen politischen Background, in den Kneipen wird gesoffen, die Wohnungen sind ramponiert und dermaßen heruntergekommen, dass sich nicht einmal ein improvisierten Lebensgefühl darin aufbauen lässt. Mit jedem Tag, an dem die DDR im Bewußtsein versickert, versickert auch die Zukunft, so dass in den Köpfen etwas Großes, Dumpfes entsteht, das sich am besten mit einer über den Kopf gestülpten Sackgasse beschreiben lässt.
Kuballa schickt ab und zu Postkarten in die Außenwelt und nach Hause, fühlt sich mit seiner Erbschaft wohl und reich und verblödet an sich selbst. Das Ende fängt vielleicht mit einer Literaturallergie an.
?Heute kein Wort mehr über irgendeinen Schriftsteller? Kein Ton über Literatur mehr, keine Bücher, nichts, sonst dreh ich ab. (...) Wahrscheinlich eine spontane Literaturallergie. Sind einfach zu viele Bücher um mich herum.? (209)
Langsam schleichen Wahnvorstellungen ins Gemüt, er müsse ehemalige Spitzel enttarnen oder der Polizei beim Verfolgen von russischen Bankräubern helfen. Die Erlösung kommt wie so oft durch die Polizei, doch welche Schmach:
?Der Kommissar, dachte Kuballa, hat sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, selbst vorbeizukommen.?(261)
Carsten Ottes Aussteigerroman laviert gekonnt zwischen diesen mythischen DDR-Wiedervereinigungsklischees herum und zeigt im vollen Kontrast jene skurrilen Nonsensflecken auf, die unter frischer Staatstünche meist schleichend durchnässen.
Carsten Otte, Schweineöde. Roman.
Frankfurt/M: Eichborn 2004. 264 Seiten. EUR 19,90. ISBN 3-8218-0948-5
Helmuth Schönauer 12-08-2004