Friederike Schwab, Nora. Ein Tanz

friederike schwab, nora - ein tanzIn der Literatur schaffen es nur wenige Titel, dass schon bei ihrer Erwähnung sofort ein Stück Lebensprogramm aufpoppt. „Faust“, „Das Schloss“, „Verstörung“ lassen nicht nur einen Text in der Lese-Erinnerung hochschnellen, sie zeigen in einem einzigen Aufblitzen Helden, die um ihr Schicksal ringen. Aus feministischer Sicht sind solche Highlights etwa „Madame Bovary“, „Pippi Langstrumpf“ oder eben „Nora“.

Friederike Schwab erzählt mit ihrem Roman „Nora. Ein Tanz“ die Biographie einer Kostüm-Künstlerin, die Geschichte einer Tanzpremiere in einer Kleinstadt, und die Unmöglichkeit, den Kopf und den Körper ein Leben lang so geschickt zu verwenden, dass sie sich nicht in die Quere kommen.

Das Stück Nora wird durch den Roman getragen anhand von zwei Protagonistinnen. Lyn leitet eine kleine Tanzkompanie und ist mit den letzten Vorbereitungen für die Aufführung beschäftigt. Dabei geht ihr die Frage durch den Sinn, ob man im Kopf erzählen kann, was der Körper zum Ausdruck bringt. Während sie sich auf ein verdichtetes Stück Leben konzentriert, geht draußen die Stadt ihren Trott. (35) Dieser Gedankengang kommt ja meist zu kurz, dass diese hervorragenden künstlerischen Leistungen durchaus in einer Blase stattfinden, während das Alltagsleben kaum Notiz davon nimmt.

Auf der zweiten Nora-Achse ist die Kostümkünstlerin Sophie aktiv. Sie ist eigentlich schon im Ruhestand und von einer überwundenen Krankheit hergenommen. Ein Leben lang hat sie sich mit Tanz und seiner Metastruktur beschäftigt. Während sie die Kostüme entwirft und die Nächte durch-näht, versetzt sie sich in diverse Rollen, die erst durch Näh-Kunst richtig in Pose kommen.

Diesen beiden tragenden Rollen der „Alten“ steht die Tänzerin Lilly gegenüber, die „austanzen“ muss, was ihr an strategischen Überlegungen der reifen Frauen vorgegeben wird.

Und in diesem Dreieck entsteht dann eine getanzte Nora, die gegen Ende des Romans fertig entwickelt ist. Nora wird somit zu einem Stück, einem Markennamen und einem Lebensprogramm.

Anhand der inszenierten Figur lassen sich jeweils individuelle Schicksale abklären. Erst wenn man die Befreiung der Theater-Nora von der bürgerlichen Welt auf der Bühne exekutiert hat, lässt sich über das eigene Leben reden.

Sophie liest immer wieder in den Kriegstagebüchern ihres Vaters, um zu begreifen, von welchen ideologischen Klauen sie gefangen gehalten wird. Sie rundet ihre Theaterleben mit einer imaginären Familie ab, eine Nah-Tochter wird eine Zeitlang wie eine echte Tochter gehalten, doch ehe irgendwelche Erziehungsmaßnahmen greifen, löst sie sich aus der inszenierten Familie und macht sich davon.

Eine Schlüsselstelle aus Ibsens Nora erklärt das Wesen der Befreiung. Im Theater verlässt Nora die Wohnung und dadurch den Mann, die Gesellschaft und die Fesseln des bürgerlichen Bildes. Auf der Bühne genügt es nicht, die Wohnung zu verlassen, hier muss in jeder Inszenierung die Heldin aus ihren bisherigen Auftritten und Choreographien heraustreten. Es wäre ein Fehler, das Verlassen der bürgerlichen Kulisse zu feiern, ohne zu berücksichtigen, dass auch die bürgerlichen Theatervorstellungen jener Zeit verlassen werden müssen.

Als hochgerechnetes Bild muss die moderne Nora das Theater verlassen, wenn sie sich für die aktuellen Medien emanzipieren soll.

Dazwischen gibt es Rückblenden auf einen Triest-Urlaub, wo Sophie tatsächlich diese Befreiung durchspielt, indem sie nackt und outriert den Touristen etwas Spontanes vorzutanzen versucht. Die Grenze zur Peinlichkeit sollte auch bei revolutionärem Gestus nie überschritten werden.

Das letzte Kapitel heißt schlicht Nora und zeigt diese als Figur voller Aufregung inmitten des Tanzes. Sie wird begleitet von einem Text aus dem gesprochenen Untergrund, während sie den Körper in Bewegung hält.

Sagt ruhig Nora zu mir. Was man wissen will, weiß man. Was man nicht wissen will, existiert nicht. Wo das Leben Tanz ist, ist unter den Sohlen manchmal Asphalt, Kot, Schlamm, manchmal sogar das Meer, also Ewigkeit. (227)

Mit etwas Übermut lässt sich diese Stelle lesen wie jene Erkenntnis Wittgensteins, die entsteht, wenn man die Leiter der Erkenntnis umwirft, nachdem man sie bestiegen hat. Das gilt wohl auch für das Konzept Nora.

Friederike Schwab, Nora. Ein Tanz, Roman
Graz: Edition Keiper 2021, 228 Seiten, 21,40 €, ISBN 978-3-903322-32-5

 

Weiterführende Links:
Edition Keiper: Friederike Schwab, Nora. Ein Tanz
Literaturhaus: Friederike Schwab

 

Helmuth Schönauer, 23-08-2021

Bibliographie

AutorIn

Friederike Schwab

Buchtitel

Nora. Ein Tanz

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2021

Verlag

Edition Keiper

Seitenzahl

228

Preis in EUR

21,40

ISBN

978-3-903322-32-5

Kurzbiographie AutorIn

Friederike Schwab, geb. 1941 in Graz, lebt in Graz.