Egyd Gstättner, Leopold der Letzte

egyd gstättner, leopold der letzteKann man aus dem Jenseits heraus einen Roman schreiben? ‒ Diese Frage beschäftigt das Publikum schon seit Jahrhunderten. Die Sache ist so fragwürdig heiß, dass man nicht von ihr ablassen kann, ehe der Roman fertig gelesen ist.

Egyd Gstättner operiert mit der These, dass jeder Autor stirbt, wenn er aus seinem Text heraussteigt. Nach der Niederschrift löst sich daraus sein Geist, dieser segelt über dem Schreibtisch und kann so mitverfolgen, wie er für tot erklärt und sein Werk zu einem Nachlass wird.

Unter diesem Erzählkonstrukt lässt sich die Literaturgeschichte als Texthaufen begreifen, über dem die Geister der Untoten schweben. In der Praxis des Literaturbetriebes führt das dazu, dass fast alle Schriftsteller zu prekären, vergessenen Wesen mutieren, denen sich die Gesellschaft nur dann zuwendet, wenn sie eine Brust braucht, um daran ein Verdienstkreuz zu nageln. In der Hauptsache aber werden sie nicht einmal ignoriert.

Wie fast alle Helden aus dem Gstättnerschen Oevre ist auch Leopold von Sacher-Masoch eine Mischung aus „letztem Ritter, Hanswurst und Kaspar Hauser“ (70). In Lemberg geboren muss er alle Strafversetzungen seines Vaters mitmachen, die den liberalen Polizeipräsidenten in immer kleinere Orte führen, bis dieser dann in Bruck an der Mur und Graz in voller Ruhe den Stillstand der Monarchie genießen kann.

Sohn Leopold bleibt der Provinzlinie treu, schafft es nicht auf einen Lehrstuhl einer kleinen Uni und bestreitet daher den Lebensunterhalt mit Schreiben und der Pflege von Verlagen, die ständig pleite gehen. Eine leise Zufriedenheit kommt schließlich im hessischen Lindheim auf, wo bei seinem Begräbnis alle von einem guten Volksbildner sprechen, der kleine Bibliotheken gegründet hat.

Seine zwei Ehen gehen schief, ermöglichen ihm aber das Ausleben einer abenteuerlichen Sexform, die sich mit „quälen und quälen lassen“ (137) zusammenfassen lässt. Als er diese demütigenden Sexualpraktiken in seinen Büchern verbreitet, als Hauptwerk gilt „Venus im Pelz“, kommt die Formulierung vom Masochismus auf. Zuerst glaubt der Gedemütigte noch an eine Sprachmode, aber bald muss er einsehen, dass es das einzige ist, was von ihm übrig bleiben wird.

Fast wortgleich mit diesem Lebenslauf verbringt ein Ich-Erzähler seine Existenz, indem er gleich auf der ersten Seite stirbt, sich über den Schreibtisch erhebt und vom Jenseits aus die Schriften sieht, worin er gerade eine Biographie über Sacher-Masoch entwirft.

Als Grazer Autor ist er seit dem aufsehenerregenden „Masoch-Jahr“ 2003 in der Mur-Stadt automatisch ein Fachmann dieser Kulturtechnik, in besagtem Jahr hat man nämlich die Sacher-Masoch-Torte kreiert und wesentliche Element von devotem Sex nachgespielt. Im Grundmuster wird jemand von der Frau als Hund äußerln geführt, wie das Valie Export seinerzeit mit dem Hund Peter Weibel fröhlich vorgeführt hat.

Der frisch verstorbene „LSM“-Biograf ist ebenfalls zweimal geschieden, hat Herzinfarkte hinter sich und leidet am Provinzialismus. Man sagt ihm offen ins Gesicht, dass er nicht zur führenden Schreiberkaste gehört und vergisst ihn ohne Ehrung auf offener Bühne.

Mit der Zeit ergibt sich aus dem „toten Blickwinkel“ und der niedergeschriebenen Story ein dichter Kulturfilz, der phasenweise den Essaystil des Zwangs-Klagenfurters Robert Musil annimmt, zu dem der Meta-Meta-Autor Egyd Gstättner als Klagenfurter ein besonders kopfschüttelndes Verhältnis pflegt.

Manche dieser Essays münden in sagenhafte Sätze, etwa wenn eine Grabinschrift konzipiert wird: „Dieser Planet hat mich nicht überzeugt.“ (49) Das Leben selbst mündet in Ratlosigkeit: „Was soll man tun? Man ist geboren.“ (81) Wenn das Leben einmal seinen trivialen Lauf genommen hat und dabei einen Höhepunkt ausspuckt, heißt es lapidar: „Der Nil ist in Kairo angekommen.“ Diese Erkenntnis wirkt umso ergreifender, je provinzieller sie dekliniert wird, auf steirisch: Die Mur ist in Graz angekommen.

Wo Tote sind, braucht es Nachrufe, wo tote Schriftsteller liegen, müssen sie besonders tot formuliert werden. Im Roman erhalten diese Nachrufe eine erregende Bedeutung, als sie sowohl dem Meta-Autor als auch dem Sacher-Masoch von ihren jeweils abrupt ausgerufenen Witwen vorgelesen werden.

An der Böschung des Masochismus sind allerhand Erkenntnistafeln aufgestellt, einmal wird der Ehebruch zum Ehebrauch (129), dann wieder entsteht ein ungestümes sexuelles Verlangen, wonach der Mann in die Frau eindringen und sie mit sich selbst ausstopfen möchte (88), kaum ist das sexuelle Ritual in Bewegung gekommen, wird ihm sterbenslangweilig, und er bricht den Sex ab, weil er keinen Sinn macht, da man ja den Geist draußen lassen muss bei solchen Verrichtungen.

„Wanda keifte und peitschte.“ (185) Gegen Ende des Lebens reduziert sich auch die Sprache auf das Wesentliche. „Um Niederlagen braucht man sich nicht zu kümmern, man sollte sie kultivieren, wenn sie kommen.“ (173) Es ist egal, wer von den beiden großen Schriftstellern des Vergessenwerdens diese Erleuchtung ausspuckt.

Der Meta-Autor und der Biographierte sind eins geworden in einem Leichenzug, der sich durch die Jahrhunderte zieht. Hinter der Asche oder dem Sarg gehen alle Anwender des Masochismus und rufen sich mit der Peitsche Sätze zu.

Während der frisch Verstorbene seine neue Lage zu begreifen versucht, wird draußen außerhalb seiner Leiche die Welt verrückt. Ein ukrainischer Virus soll um die Wege sein, jedenfalls werden überall Tote im italienischen Seuchenstil begraben, während die Überlebenden zu Hause sitzen und sich abschotten. Viele davon sind womöglich schon gestorben und schweben als Über-Ich über ihrem Leichnam, wie es der Autor gerade vorführt.

Scheidung ist ein anderes Wort für Hölle, heißt es, und der Autor wird an Kafka erinnert: „Jemand musste mich verleumdet haben“, sodass es zur Scheidung gekommen ist. Mit solchen Therapie-Sätzen versucht man, die Seuche in den Griff zu bekommen, aber das Virus widersetzt sich jeder literarischen Maßnahme und zwingt alle, den Status „Umnachtung“ anzuklicken

Das Romanende führt an die Wurzeln des ganzen Desasters zurück. In Lviv, wie Lemberg jetzt heißt, hat man im Gedenken an Ludwig von Sacher-Masoch eine bronzene Statue aufgestellt, die statt der Genitalien einen Riesenschlitz hat. In diesen müssen die Gäste hineingreifen, während ihr Gesicht für ein Posting eingefroren wird. Niemand kann genau sagen, was er im Greifschlitz gespürt hat. Aber alle wissen, es hat etwas mit Masochismus zu tun.

Egyd Gstättner steuert seine diversen Ichs elegant durch den Roman. Wenn man vom offiziösen Literaturbetrieb geschnitten wird, ist man frei und kann so erzählen, wie es notwendig ist. Und der Meister des peripheren Stilllebens nützt diese Freiheit und erzählt ein Stück Kulturgeschichte österreichischer Provenienz.

Egyd Gstättner, Leopold der Letzte. Roman
Wien: Picus Verlag 2021, 352 Seiten, 24,00 €, ISBN 978-3-7117-2112-9

 

Weiterführende Links:
Picus Verlag: Egyd Gstättner, Leopold der Letzte
Wikipedia: Egyd Gstättner

 

Helmuth Schönauer, 20-09-2021

Bibliographie

AutorIn

Egyd Gstättner

Buchtitel

Leopold der Letzte

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2021

Verlag

Picus Verlag

Seitenzahl

352

Preis in EUR

24,00

ISBN

978-3-7117-2112-9

Kurzbiographie AutorIn

Egyd Gstättner, geb. 1962 in Klagenfurt, lebt in Klagenfurt.

Leopold von Sacher-Masoch, geb.1836 in Lemberg, starb 1895 in Lindheim/Hessen. „Erfinder“ des Masochismus.