Norbert Mayer, wortungen gedichte

Buch-CoverSchon der Titel macht alles klar und lässt alles offen. Es geht um W-ORTE, die in noch unerschlossenen Sprachgegenden gegründet werden, als Knoten- und Zielpunkte ihr Schicksal durchmachen und später einmal aufgegeben und zur Wüstung werden.

Eines der größten Themen in der Lyrik ist der Jahreskreis, das Gehen und Vergehen großer und kleiner Dinge mit unbestechlicher Ernsthaftigkeit. Norbert Mayer, der sich als ?echter Lyriker? lange verschwiegen hat, stellt in ?wortungen? den Ablauf eines sprachpotenten Jahres vor. In zwölf Sequenzen, die wohl dem Monatsabriss am Kalender entsprechen, werden Worte wie verschollene Bräuche ausgehoben, neu inszeniert und dann wieder frisch verpackt beiseite gelegt.

Die Kapitel tragen Überschriften wie  "planeten-schub & kehrt-getriebe", "perrücken-verrücken", "luna-schmalz im solar-plex", "natur(trüb)-(ver)rauschen", "dort" oder "Notturno/s". Schon in diesen Überbegriffen lässt sich die Methode der Wortschöpfungen ablesen, die Begriffe entstehen allmählich, ihr Gerüst bleibt in Gestalt von Klammern und Bindestrichen bestehen, die Wörter sind eingerüstete Häuser, bei denen der Beobachter teils auf die Bedeutung, teils auf den Verputz achtet, und im Sinne der Transparenz des Schöpfungsprozesses bleiben die jeweiligen Arbeitsschritte auch im fertigen Text erkennbar.

Den zwölf Abschnitten sind jeweils luftige Zitate aus dem Universum der Lyriker untergestellt, diese Zitate sind wie Passwörter zu lesen, damit nur die Vorbereiteten und Eingeweihten den jeweiligen Sektor betreten. "manchmal muß man die dinge 'schwierig' sagen" (7) heißt gleich das erste Motto von T.S.Eliot.

Die Gedichte sind beim ersten Anblick graphisch konventionell gestaltet, im Zweifelsfalle gehen sie in die Länge als in die Breite, stets soll der Eindruck bestehen bleiben, dass es sich um ein Gedicht handelt. Aber unter der Oberfläche kocht es. Immer wieder wird nachgebessert, neu angesetzt, noch einmal gestartet. Wie man als überraschter Autolenker oft mit glatten Reifen aus einer Schneemulde herauswippt, kuppelt sich der Leser in die Texte ein und versucht, sie in behutsamen Rucken zu durchfahren.

Oft ist es eine Erinnerung, die in rupfige Scheiben geschnitten sich allmählich zu einem Bild zusammensetzt wie etwa das lust-begehrliche Gedicht vom Barock, wo offensichtlich eine Ministrantenseele sich in die sexuellen Falten der barocken Putten hineinbetet. (35) Kindheit, Reisen, Bräuche, Freundschaften sind weitere Stationen, die auf diesem Erinnerungsparcours angefahren werden.

Auf der Suche nach dem Urgewicht der Wörter dürfen auch literarische Besonderheiten des Literaturbetriebes nicht fehlen. So wuchert etwa eine Lesung dermaßen in die Breite, bis völliges Unverständnis eintritt. (82) Aber auch literarische Lourdes-Orte wie das Ohlsdorf des Thomas Bernhard oder das Sprachsalz eines Heinz D. Heisl in Hall bilden Koronen, in deren Mitte die Erkenntnisflammen seltsam flackern.

Die Welt zieht als Prospekt an den Gedichten Norbert Mayers vorbei, zwischen den Wörtern und Bildern entstehen ironische Blasen die zwischendurch aufplatzen und einen frischen Blick frei geben.

Norbert Mayer: wortungen. gedichte.
Innsbruck: Haymon 2004. 127 Seiten. EUR 15,90. ISBN 3-85218-462-2.

 

Helmuth Schönauer, 01-12-2004

Bibliographie

AutorIn

Norbert Mayer

Buchtitel

wortungen gedichte

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2004

Verlag

Haymon

Seitenzahl

127

Preis in EUR

EUR 15,90

ISBN

3-85218-462-2

Kurzbiographie AutorIn

Norbert Mayer, geb. 1955 in Egg/Vbg., lebt in Schwarzenberg.