Auswirkungen von Störungen der Okulo- und Blickmotorik am Beispiel „Sakkaden“

schriftspracherwerb „Was unsere Augen beim Lesen bewegt“

 

Kennen Sie Schüler*innen, die

  • nicht oder nur erschwert von der Tafel abschreiben können?
  • die beim Lesen häufig die Zeile „verlieren“?
  • trotz ausreichend Übung stockend lesen?
  • von tanzenden, hüpfenden, ... Buchstaben/Bilder berichten?
  • beim Lesen Buchstaben, Wörter, Punkte, ... auslassen?
  • beim Suchen von Seitenzahlen, Nummern, Absätzen, ... buchstäblich verloren gehen?
  • Schwierigkeiten mit Kleindruck und/oder großflächigen Darstellungen haben?
  • durch motorische „Ungeschicklichkeit“ und Koordinationsprobleme auffallen?
  • beim Abschätzen von Entfernungen Schwierigkeiten haben?
  • bei visuellen Anforderungen auffallend schnell ermüden, häufig über Kopfschmerzen, brennende Augen, ... klagen?
  • „nie“ Blickkontakt aufnehmen?
  • Probleme beim Fokuswechsel (Heft-Tafel) haben?
  • häufig ein Auge schließen? (vgl. „Checkliste – Sehen“ aus Kinderaugen und Lernen, S 8)

 

Noch nicht umgeblättert? Dann konnte ich wohl Ihr Interesse wecken und/oder Sie denken jetzt gerade an ein Kind in Ihrem Wirkungsbereich, auf das ein oder mehrere Sätze der Liste zutreffen.

 

Vorab eine kurze Begriffsbestimmung

Schwierigkeiten beim Lesenlernen können, müssen aber natürlich nicht zwangsläufig mit einer Beeinträchtigung des Sehens in Zusammenhang stehen.

Eine Sehbehinderung liegt beispielsweise dann vor, wenn eine Person trotz bestmöglicher Korrektur, ein Sehvermögen von £ 0,3 aufweist. Das bedeutet, dass ein Sehzeichen, das von einer Person ohne Beeinträchtigung des Sehens in einer Entfernung von 3 Bild1Sehen.pngMetern erkannt wird, erst in ca. 30 cm erkannt wird.

 

Die im nachfolgenden Abschnitt behandelten Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb und insbesondere beim Lesenlernen sollen Sensibilität dafür schaffen, dass es trotz guter, „normaler“ Sehschärfe möglich sein kann, dass Kinder Schwierigkeiten in der visuellen Wahrnehmung aufweisen können, die dazu geeignet sind, den Lernerfolg in Bezug auf den Schriftspracherwerb erheblich zu erschweren und/oder zu gefährden.

Abbildung 1: Kategorien von Sehbeeinträchtigungen nach Sehvermögen, DIMDI/WHO


 

 

 

 

First things first – ein kleiner Exkurs in die Phasen des Schriftspracherwerbs bei Kindern mit und ohne Beeinträchtigung des Sehens

 

Kindern mit Sehbeeinträchtigung ist der natürliche, scheinbar automatische Zugang zum geschriebenen Wort durch Realbegegnungen oft erschwert. Denken wir beispielsweise an das Anschauen von Bilderbüchern, das für die Entwicklung von Vorläuferfähigkeiten für das Lesenlernen bedeutsam ist. Dabei erfolgt eine frühe Förderung von Schlüsselkompetenzen, wie etwa eine Schulung der visuell räumlichen Wahrnehmung, das gezielte Fixieren, das visuelle Suchverhalten bzw. das Erlernen gezielter Suchstrategien.

 

Ab einem Alter von ca. 2 Jahren beginnt die Phase der „Präliteral-symbolischen Strategien der Rezeption und Produktion“, zu deren Charakteristiken unter anderem die Imitation von beobachteten, sinngerichteten Schreibaktivitäten (z.B. Einkaufszettel schreiben) zählt. Mit zunehmender Übung wird die grafische Gestaltung dieser „Kritzeleien“ immer linearer und somit unserer Schrift immer ähnlicher.

Kinder mit Sehbeeinträchtigung starten mit denkbar ungünstigen Voraussetzungen in diese Entwicklungsphase, weil Vorläuferfähigkeiten des Schriftspracherwerbs oft nicht „automatisch“ durch z.B. Realbegegnung mit Schrift erfolgt, sondern mit Schaffung von Lernsituationen geplant, initiiert und angeleitet werden muss. Nur so kann der Sprung von der

  • präliteral-symbolischen Phase der Rezeption und Produktion zur
  • logographemischen Phase, die durch Unterscheidung von Schrift und anderen grafischen Darstellungen, der kopierenden Reproduktion (Abmalen von Wörtern, Schreiben des eigenen Namens, z.T. Hören von Anlauten, etc.) gekennzeichnet ist, über
  • das Erlernen von alphabetischen Strategien (lautorientierte phonetische Schreibweise),
  • hin zu der Entwicklung orthographischen Strategien und schließlich zur
  • integrativ-automatisierten Phase (lebenslanger Prozess der Automatisierung des orthographischen Regelwerks), gelingen.

 

Voraussetzungen für ein Gelingen des Schriftspracherwerbs sind nach Markus Lang

  • Sprachliche Fähigkeiten
    • Semantik (Begriffsbildung)
    • Wortschatz
    • Pragmatik
    • Artikulation
  • Phonologische Bewusstheit
  • Wahrnehmungsfähigkeiten
    • Unterscheidung von grafischen Formen
  • Feinmotorik
    • Graphomotorik
    • Stifthaltung
    • ...
  • Raumkonzept
  • Symbolbewusstheit
  • Motivation
  • Konzentration

(vgl. Lang/Hofer 2022, S. 38)

 

Über die Physiologie des Lesens

 

Betrachtet man geübte Leser, so könnte man glauben, die für den Lesevorgang erforderlichen Augenbewegungen gestalteten sich in einer gleichmäßigen Abtastbewegung von links nach rechts, bis das Ende einer Zeile erreicht ist. Dann erfolgt ein schneller zielgerichteter Sprung in die nächste Zeile und der Vorgang beginnt von Neuem. Wie Sie vielleicht schon vermuten, ist dem nicht so.

Wird ein visueller Reiz beobachtet, der sich in Ruhe befindet, wie es ja auch beim Lesen der Fall ist, müssen auch die Augen stillstehen, um ihn adäquat wahrnehmen und deuten zu können. Im Umkehrschluss müssen sich die Augen bewegen, um einen bewegten Gegenstand wahrnehmen zu können.

 

Jene (nicht gleichförmigen) Bewegungen des Auges, die für das Lesen eine fundamentale Rolle spielen, werden als Sakkaden/Blicksprünge bezeichnet. Das Ende einer jeden Sakkade bildet die Fixation. Diese ermöglicht wiederum die Aufnahme detaillierter Informationen über ein Objekt/Lesegut. Um beim Lesen adäquat fixieren zu können, muss das Auge die Linse für die Naheinstellung anpassen (Akkomodation) und beide Augen müssen sich in eine Konvergenzstellung (nach innen gerichtet) begeben.

Führt man sich vor Augen, dass bei einem Leseabstand von etwa 40 cm, auf Grund der Beschaffenheit unserer Augen, eine nur relativ begrenzte Anzahl von Buchstaben „scharf“ gesehen werden kann, offenbart sich die essentielle Bedeutung dieser Blicksprünge.

Verantwortlich für diesen Umstand ist der verhältnismäßig kleine Bereich auf unserer Netzhaut, der für hochauflösende Bilder zuständig ist, die Makula (Stelle des schärfsten Sehens). Liegt ein visueller Reiz, der scharf gesehen werden soll, außerhalb dieses kleinen Areals, wird ein Blicksprung notwendig, um die nach außen hin zunehmend entstehende Unschärfe in der Netzhautperipherie auszugleichen.

 

Zeit für einen Versuch...

  * Strecken Sie Ihre Hand aus und fixieren Sie sie. Ihre Augen stehen still. Fixieren Sie weiter Ihre Hand und achten dabei auf deren Umgebung– diese kann nicht               gleichzeitig mit Ihrer Hand „scharfgestellt“ werden.

  * Strecken Sie Ihre Hand aus, fixieren Sie den Mittelfinger und bewegen Sie sie von links nach rechts. Ihre Augen folgen der Bewegung, Sie sehen Bild2Sehen.pngIhre Hand „scharf“.

 * Strecken Sie Ihre Hand aus, bewegen Sie sie nach rechts/oben/unten... und halten dabei Ihre Augen still. Es ist unmöglich, die Hand scharf zu sehen, ohne sie mit   den Augen zu verfolgen.

 

 

 

Unsicheres, holpriges, repetitives Lesen kann also dadurch entstehen, dass Kinder nicht in der Lage sind, sakkadische Augenbewegungen zielgerichtet auszuführen. Symptomatisch ist ein Zurückspringen auf bereits Gelesenes. Auch Blicksprünge nach oben und unten sind möglich – die Zeile wird „verloren“. Unnötig darauf hinzuweisen, dass bei Problematiken wie dieser, flüssiges Lesen nahezu nicht möglich ist und Sinnerfassung verloren geht.

 

 

Abbildung 2: Ein Hand vor einer mit Schwarzschrift bedruckten Seite. Der Fokus liegt auf der Hand - in der Peripherie ist scharfes Sehen unmöglich

 

 

 

 

 

 

 

Abhilfe schafft z.B.

  • Individuelle Aufbereitung des Lesegutes nach den individuellen Bedürfnissen des Kindes wie Verwendung von
    • serifenloser Schriftarten (Schuldruckschrift, Verdana, Arial, Calibri,...) in angepasster Laufweite, Schriftgröße und angepasstem Zeilenabstand.
    • Markierungspunkten (punktförmig, Büroklammer, Nummerierung, etc.) am Anfang einer neuen Zeile;
    • Leselinealen/Lesepfeilen, die gerade nicht benötigte Textabschnitte abdecken oder den Fokus gezielt auf die gerade zu lesende Zeile richtet und für oben beschriebene Problematik, auch nach rechts eine Begrenzung aufweisenBild3Sehen.jpg
    • Lupenlineale mit Führungslinie;                                                                     

       

      Abbildung 3: Schweizer Leselineal mit Führungslinie (20 cm) (Quelle: https://ergo2work.at/item/292-1243/schweizer-leselineal-mit-fuhrungslinie-20-cm)


                      
  • Anpassung des Arbeitsplatzes
    • Sitzplatzwahl
    • Lesepult                                                                                                                                                 
    • ausreichende blendfreie Beleuchtung
    • erhöhter Platzbedarf bei technischen Hilfsmitteln
  • Reduzierung von visueller Komplexität
    • auf Übersichtlichkeit von Leseblättern achten
    • auf gute Kontrastierung achten
    • individuellen Vergrößerungsbedarf beachten
    • mit aufwendigen Formatierungen sparsam umgehen bzw. bei Texten ganz darauf verzichten
  • angemessene Zeitzugaben gewähren und einplanen;
  • Technische Hilfsmittel (bspw. On-board-Vorlesefunktionen von Tablets und Office-Anwendungen) nutzen
  • regelmäßiges, tägliches Training der Arbeitstechniken;

 

Eine augenärztliche und orthoptische Abklärung sind der erste Schritt und bringen Gewissheit über eventuell bestehende medizinische Problematiken wie Refraktionsfehler, Schielen, Gesichtsfeldausfälle, usw. Ausgehend von den Ergebnissen der medizinischen Untersuchungen und einer etwaigen Brillenverordnung, unterstützt der Bereich SEHEN gerne mit einer Abklärung des Funktionalen Sehens und der Ermittlung der individuellen (visuellen) Bedürfnisse der Schülerin/des Schülers.

 

Daniel Weiskopf, BEd

Fachbereich für Inklusion, Diversität und Sonderpädagogik
Beratungslehrerin im Bereich Sehen
Überregionale Beratung und Betreuung
E: da.weiskopf@tsn.at

Zielgruppe