Alexander Kluge, Das Buch der Kommentare

alexander kluge, das buch der kommentareVom Gewicht her überstrahlt der Titel „Das Buch der Kommentare“ bei weitem den erfrischenden Zusatz „Unruhiger Garten der Seele“. Das eine erinnert an archaische Bibelformate jenseits von Raum und Zeit, das andere ist die zaghafte Verortung des Individuums im Garten der eigenen Seele.

Alexander Kluge hat sich zu seinem neunzigsten Geburtstag sein Werk abermals selbst erschlossen, indem er in drei Einleitungsgeschichten unerwartete Zugänge zur Welt freischaufelt.

  • Wie konserviert eine junge Mutter die patschenden Schritte ihres Kindes vom Badezimmer hinaus in die Welt?
  • Was macht ein Sirenenton mit einem Neunzigjährigen, wenn er ihm voll in die Knochen fährt?
  • Wie fördert man Kommentare ans Licht, die einem Bergschatz ähnlich seit Jahrmillionen unter der Erde liegen?

Die Antwort kommt wie so oft bei Alexander Kluge in Form eines Bildes, das einen unerwarteten Subtext eingeschoben hat. Zu sehen ist ein amorphes Gesicht, worin der Autor sein Gesicht als Erwachsener von einem Künstler zu einer Totenmaske hat hochrechnen lassen. In dieser Maske sind die nassen Tapser der Kindheit, der Sirenenton eines Bombenangriffs auf Halberstadt und die regsamen Fördertätigkeiten schräg hinein ins Land zusammengefasst. Wenn man so will, eine Biographie aus drei Spurenelementen: Nasser Abdruck, schriller Ton, aufgerissener Boden.

Die Kommentare rollen in zwölf Stationen die Möglichkeiten auf, durch Verlinkung der Sinnesorgane das Sensorium für die Betrachtung der Welt nachzujustieren.

Im Originallaut heißt es in der Gebrauchsanweisung fürs Lesen: „In der Regel stehen die Geschichten eines Kapitels in einem inneren Zusammenhang, der sich nicht aus den Überschriften oder sonst äußerlich feststellen lässt. Sie haben einen Subtext. Wenn der Leser also Freundschaft geschlossen hat mit einem Wort, dann soll er das Wort im Kopf haben, wenn er eine der umstehenden vorherigen oder nächsten Geschichten liest. Das Wort verändert sich, und die Geschichten ebenso, die mit dem fremden Wort im Kopf gelesen werden.“ (215)

Das Genre „Kommentare“ lässt sich vielleicht mit dem Justizbetrieb vergleichen, wo im Anschluss an eine knapp verfasste Zeile aus dem Gesetzblatt schier unendlich viele Kommentare angefügt werden.

Im Kommentar zum Text meines Lebens ist dieses Verfahren definiert: „Das Format der Kommentare verlangt kurze, feststehende Texte, Texte von Geltung, die den nachhaltigen Anbau von Ergänzungen, Notizen, Fortsetzungen, Fragmenten und Übersichten gestatten. Im Allgemeinen ist der Kommentar lang, der Text knapp.“ (75)

Als Plot dient vage das Leben selbst, das aber durchaus seinen Anfang im Weltall hat oder im körperwarmen Ur-Ozean während einer Zwischenvegetation der Erde. Die engere Geschichte könnte man als Familiengeschichte auffassen, wobei „Familienteile zerschnitten werden durch Zeit“ (60).

Natürlich ist das Schicksal einer Person nichts Fixes, es gibt etwa die Überlegung oder gar das Pilotprojekt „Leben im Gehäuse einer fremden Person“. (69)

Die zwölf Kommentare sind jedenfalls austauschbar, man kann mit diesem Erzählmittel sowohl Nähe als auch Ferne erforschen. Didaktisch aufgefrischt sind die Problemstellungen mit der Erzählfrage: „Wie erzählt man von der menschlichen Arbeitskraft?“ (363) „Wie erzählt man von Scheidewegen (Zäsuren)?“ Als Antwort bietet sich jeweils ein Hauptwerk Alexander Kluges an. Themen wie Arbeit, Öffentlichkeit oder Verschrottung durch Arbeit sind seit Jahrzehnten von seinen „schwergewichtigen“ Büchern unterfüttert, dabei haben irrwitzige Fragestellungen durch die Beantwortung nichts von ihrer Schärfe verloren. Wie schwer ist eine Seele? oder Wozu ist Denken gut in der Umbruchszeit?

Die einzelnen Seiten sind dem Kluge’schen Layout angepasst.

  • Großes Kapitel mit der Bedeutung einer Inschrift
  • Schlüsselbegriffe als semantischer Chipeinsatz
  • Blocksatz als Kommentar
  • Fallbeispiel im Umfang einer Begebenheit
  • Bildmaterial
  • Bilduntertext, der dem Kapitel gehorcht und das Bild in einen Kapitelkontext zwingt

Nach dieser Methode blühen Kommentare aus wie Rostnetzwerke auf einer eisernen Fläche.

Und je mehr der Stoff kommentiert wird, umso mehr bleiben neue Fragen ungeklärt. Dabei kann es sich um eine ganze Philosophie handeln wie bei Jürgen Habermas oder um die entscheidende Frage Wohin fliehen? (151).
Ehe die Hinweise und Nachweise auftreten, lautet der letzte Satz jedenfalls recht zuversichtlich:

Die Hoffnung ist wirksam wie eine Droge. (352)

Alexander Kluge, Das Buch der Kommentare. Unruhiger Garten der Seele, Abb.
Berlin: Suhrkamp Verlag 2022, 387 Seiten, 32,90 €, ISBN 978-3-518-43024-8

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Alexander Kluge, Das Buch der Kommentare
Wikipedia: Alexander Kluge

 

Helmuth Schönauer, 07-08-2022

Bibliographie

AutorIn

Alexander Kluge

Buchtitel

Das Buch der Kommentare. Unruhiger Garten der Seele

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Suhrkamp Verlag

Seitenzahl

387

Preis in EUR

32,90

ISBN

978-3-518-43024-8

Kurzbiographie AutorIn

Alexander Kluge, geb. 1932 in Halberstadt, lebt in München.