Hannes Vyoral, Ostinato
Unter Tagebuch versteht man einerseits den Hinweis auf die Ausdauer chronologischen Schreibens, andererseits ist es ein literarisches Genre, das durchaus mit einer solitären Bedeutung unterlegt sein kann.
Hannes Vyoral überschreibt sein Tagebuch rund um den Beginn der 2020er Jahre mit „Ostinato“, womit musikalisch eine Figur gemeint ist, die sich ständig wiederholt. Im Literaturbetrieb wird Ostinato manchmal als letztes Kapitel einer Biographie verwendet, um auf den Kreislauf einer Entwicklung jenseits des Linearen hinzuweisen.
Bei Hannes Vyoral „dreht“ sich im Ostinato alles um den Verlauf des Jahres, und wenn das eine Jahr vorbei ist, kommt das nächste, überraschend gleich ausgeprägt und dennoch völlig anders.
In einem ersten Rundlauf kümmert sich das lyrische Ich um den Garten, indem es diesen einfach walten lässt. Die Eintragungen heißen dann auch: Frühlingserwachen / Mein Garten / Aprilgewitter / Grau in Grau / Gartenbegräbnis.
Hinter dieser grobkörnigen Dokumentation der Jahreszeiten sind dann die kleinen Tagesspitzen eingeschlossen, die allmählich jedes Jahr unverwechselbar machen. Einmal stirbt der Nussbaum, dann gibt unter einer Hitzewelle ein Biotop den Geist auf, ehe im Herbst die Blätter in großen Umzügen bestattet werden, still mit dem Rechen am Rande des Dorfes.
Das lyrische Ich wandert in jährlichen Ritualen zuerst aus dem Garten hinaus ins Dorf, riskiert die erste Ausfahrt mit dem Fahrrad, erkundigt sich, ob der Seewinkel wohl die vergangenen Witterungskapriolen überstanden hat, und flüchtet bei großer Hitze ins Gebirge, um dort festzustellen, dass es immer die Gewächse und Pflanzen sind, die uns ein erträgliches Leben erst ermöglichen.
In dieser Erkundungslage greift der Autor das Motiv von der Botanisiertrommel des H. C. Artmann auf, freilich sammelt auch er nichts außer lyrische Keimzellen, die im Tagebuch sofort zu wuchern beginnen.
In einem zweiten Zeit-Rundgang wird die Verweildauer länger, irgendwie schlägt das Klimaphänomen durch, wodurch die Witterungen länger dauern und heftiger werden.
Das Tagebuch greift dieses Phänomen auf und bleibt seitenlang in der Hitze sitzen, ehe es sich dann einer Niederschlagszone aussetzt, die bis auf die Knochen durchschlägt. Im lyrischen Verfahren geht dieser Durchschlag hinein in die Seele, wie man früher zur Psyche gesagt hat.
Der Schreibvorgang gleicht dem biologischen Zyklus, die Wörter benehmen sich wie Pflanzen, der Schreibsaft steigt verlässlich bis in die Gipfel auf, ehe sich wieder Trockenheit und leeres Papier durchsetzen.
wörterwiese // ich bin noch gestrig unterwegs / auf meinem alten klapperrad / mit buch & stift und zeichenblatt / und streune durch die wiese (97)
Das lyrische Ich verwandelt nach dieser Methode jede Gegend in ein Gedicht, die Verse werden zu Zauberformeln, welche jäh die Wiesengeister aufwecken, wenn sie von Schritten heimgesucht werden.
In der Zusammenschau dieser überschaubaren Motive tun sich öfters Löcher auf, in denen einst etwas Lebendiges genistet hat. Wegweiser verweisen auf Tierarten, die womöglich schon ausgestorben sind, die Flächen des Gartenlebens sind größer als die Zahl der Pflanzen, die noch nicht ausgerottet sind.
Je mehr sich die Gedichte an die wenigen Stationen halten, an denen der Kreislauf des Lebens noch funktioniert, desto größer wird das Leck, das in die Landschaft gerissen ist. Der Seewinkel mit seinen Dörrzonen zeigt letztlich den Verlust als großräumiges Ereignis.
Während der Blick wieder einmal ins Garteninnere schweift, spielt sich draußen die große Katastrophe ab. In Andeutungen lässt sich erahnen, dass sich eine moderne Pest durch den Kontinent bewegt und die Menschen in ihre Gärten treibt, sofern sie einen haben.
Das Gartenmotiv, das neben den Vögeln als ein verlässliches Instrument zur Poetisierung des Alltags dient, drängt gerade in Zeiten von Lockdowns heftig in den Vordergrund.
Michael Krüger etwa entwickelt mit „Im Wald, im Holzhaus“ für diesen Zustand ein innovatives Genre, die Blockhauslyrik.
Die tragende Melancholie wird schließlich an die Spitze getrieben, wenn der Held sich selbst in den Jahreszeiten vergehen sieht. Ein Blatt, überraschend während eines Sturmes abgefallen, wird einzeln am Komposthaufen bestattet. Das lyrische Ich zögert, ob es nicht selbst an dieser Stelle mit dem Verwesen beginnen soll.
Und gibt es eine Hoffnung?, fragt das Tagebuch die Leser aus dem Bauch des Autors heraus. – Ei freilich, ist man versucht zu sagen, Ostinato endet mit einem Märzgedicht, spät, aber immerhin, kommt die Märzsonne heraus.
Hannes Vyoral, Ostinato. Ein Tagebuch
Wien: Verlagshaus Hernals 2022, 129 Seiten, 23,90 €, ISBN 978-3-903442-11-5
Weiterführende Links:
Verlagshaus Hernals: Hannes Vyoral, Ostinato
Wikipedia: Hannes Vyoral
Helmuth Schönauer, 22-11-2022