Gerald Murnane, Inland

gerald murnane, inlandZwischen Ungarn, South Dakota und Australien liegt Gras. Im Gras wird das Einfache komplex und das Komplexe einfach. Wann immer Helden vom Schreibtisch aufschauen und hinausblicken ins Freie, sehen sie Gras. Der vollkommene Roman besteht aus Gras.

Gerald Murnanes „Inland“ duckt sich vor der Bezeichnung Roman, weil er sonst perfekt wäre. Und wie perfekt „Inland“ ist, zeigt eine Nachbemerkung, wonach der Autor ein Vierteljahrhundert nach dem Entstehen 1988 alles noch einmal durchliest und feststellt: Es ist alles ausreichend erklärt und mannigfaltig genug dargestellt. Wenn etwas nicht verstanden wird, liegt es am Leser.

Und dieser wird von der ersten Seite an bei der Hand genommen und mit Schlieren von Schrift eingewickelt. Ein Autor sitzt am Schreibtisch und überlegt, ob er aufstehen soll und hinausschauen beim Fenster ins Gras, aber er beschließt sitzen zu bleiben, weil er sich durch Schreiben dieses Aufstehen erspart. Außerdem ist es dem Leser egal, ob dieser Text sitzend oder schauend geschrieben worden ist, durch die pure Erwähnung des Aufstehens nämlich ist der Leser schon aufgestanden und schaut selbst aus dem Fenster.

So ungefähr funktioniert die Prosa des Meisters der Metafiktion. Zusammengehalten wird alles durch die Schrift, die das Schreibgerät ausstößt, wenn es über das Papier gezogen wird. Und die Schrift selbst gleicht dem Gras, das draußen steht, das Gras ist eine sichtbare Form von Sehnsucht.

Dem Roman „Inland“ wohnt kein Plot inne, sondern eine Konstellation. Ein australischer Autor erfindet einen Ich-Erzähler, der als Landherr in seinem Herrenhaus in Ungarn sitzt und die Bibliothek bewacht, die ihm die Vorfahren hinterlassen haben. Alles, was er von der Welt wissen muss, steht in den Büchern. Damit diese sprechen können, braucht es ein Fenster, durch das es hinausgeht in die Weite des Komitats.

Dieser ungarische Erzähler schreibt seine Texte vorläufig für seine Lektorin, die aus Ungarn ausgewandert ist und jetzt in Ideal, South Dakota, an einem Institut arbeitet, das auf Prärie spezialisiert ist. Der Ausblick auf die Prärie ist als Versuchsanordnung angelegt, statt in ein Okular schaut die Forschende durch das Fenster in die Laborlandschaft.

Zwischen den Welten ergeben sich seltsame Amalgame, wie sich etwa im Wort Farmarbeiter zeigt. Niemand würde in Ungarn von einer Farm sprechen, wenn ein Landschaftssitz gemeint ist, andererseits empfindet die gebürtige Ungarin die Landschaft als Farmland, wenn sie diese von ihrem Institut aus retrospektiv betrachtet.

Die Diskrepanz zwischen schreibender und angeschriebener Person wird vom australischen Autor aus dem Hintergrund heraus gesteuert und ins Freie der Vorstellung gelenkt.

„Der Verfasser von Büchern sprach über die Seiten von Büchern, und der Mann aus der Bibliothek des Herrenhauses sprach über die Grasländer Amerikas. Der Verfasser von Büchern sprach über eine junge Frau, die tot war, und der Mann aus der Bibliothek sprach über eine Frau, die lebendig und gesund war und auf der Great Plain von Amerika lebte und ihm manchmal schrieb.“ (48)

Dieser Erklärung geht ein Gespräch voraus, in dem ein benachbarter Landherr den Schreiber-Landherrn besucht und über die Schweinezucht redet. Hinter diesem Thema verbirgt sich freilich die Geilheit, wie sie in Herrenhäusern herrscht, die Sauen werden nämlich von den Herren zuerst ordentlich bearbeitet, ehe sie dem Eber zugetrieben werden.

Die von Sehnsucht gesteuerte Erotik freilich mündet in partielle Sprachlosigkeit oder in Metaphern, die unauffällig wirken. Die Lektorin ist mit einem Schweden verheiratet, das tut vorerst nichts zur Sache und auch nicht weh, aber wenn der Text seltsam innig wird, schmerzt die Vorstellung, dass die Lektorin von einem schwedischen Körper bearbeitet wird, während der Text aus der ungarischen Prärie „zuschaut“.

In dieser weiten Textfläche sind regelmäßig Pflöcke eingeschlagen, die etwas Biographisches markieren könnten. Statt eines Gesichtsfotos schickt der Autor ein Foto von der Grabstätte der Familie und verfasst eine fiktive Todesanzeige, worin die Sehnsucht als Ganzes bestattet wird.

Der Vater etwa wird in „Prärie-Manier“ mit der Fügung abgehandelt: „Vier mal in seinem Leben versuchte mein Vater, in Grasländer zu entkommen.“ (209) Dabei geht es stets um Flucht vor Schulden, denn nach ein paar Jahren häufen sich diese an, wenn man zu lange in einem Grasland hinter Melbourne oder am Darebin Creek gelebt hat.

Die letzte größere Sequenz, die im Textland ausgebreitet ist, handelt von der generellen Weite des Landes und der Sprache. Das Ungarische ist so solitär in der Sprachenfamilie, dass man zu weinen beginnt, wenn man sich der Sprachverlorenheit annähert. Der Erzähler gerät freilich ins heftigste Weinen, als ihm die Sprachnähe zu den Finnen in den Sinn kommt. Die sind womöglich noch sprachverlorener.

Wie man es dreht und wendet, die Melancholie wird umso stärker, je mehr sie sich als Meta-Melancholie ausbreitet. Die Zeitschrift, in welcher der erfundene Autor seine Texte publizieren soll, heißt Hinterland in kursiver Schrift, der Redaktionsraum ist beschriftet mit Hinterland in Versalien. Es dürfte ziemlich einzigartig sein, dass eine Metaebene eine eigene Zeitschrift führt, die sich mit dem Phänomen Hintersinn auseinandersetzt.

„Ich stellte das Buch zurück auf das Regal, wo es zwanzig Jahre ungeöffnet gestanden hatte.“ (205) – Inland ist ein Roman, der für jeden Leser persönlich geschrieben ist.

Gerald Murnane, Inland. [Roman.] A. d. Engl. von Rainer G. Schmidt [Orig.: Inland, Australien 1988]
Berlin: Suhrkamp Verlag 2022 (= BS 1534), 269 Seiten, 22,70 €, ISBN 978-3-518-22534-9

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Gerald Murnane, Inland
Wikipedia: Gerald Murnane

 

Helmuth Schönauer, 30-12-2022

Bibliographie

AutorIn

Gerald Murnane

Buchtitel

Inland

Originaltitel

Inland

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Suhrkamp Verlag

Übersetzung

Rainer G. Schmidt

Seitenzahl

269

Preis in EUR

22,70

ISBN

978-3-518-22534-9

Kurzbiographie AutorIn

Gerald Murnane, geb. 1939 in Melbourne, lebt Melbourne.