Carolina Schutti, Meeresbrise

carolina schutti, meeresbriseÜblicherweise erklären Erwachsene in infantiler Sprache den Kids, wo es langgeht. Sie verwenden dazu Bilderbücher und Kurzgeschichten und hoffen, dass die Kids während des Vorlesens eingeschlafen sind, ehe eine Lösung eines Problems zur Sprache kommt.

Carolina Schutti dreht im Roman „Meeresbrise“ den Erzählspieß um, und bringt die Erwachsenen ins Schwitzen, weil keine Lösung hergeht. Niemand schläft nämlich ein, wenn zwei Kids erzählen, was sie alles durchmachen müssen, bis sie formatiert und für den gesellschaftlichen Gebrach genormt sind.

Meeresbrise besteht aus einem langen Teil, der mit Palimpsest überschrieben ist. Dieser Ausdruck beschreibt ein Recycling-Verfahren, bei dem zwischen die Zeilen eines bereits auf Pergament geschriebenen Textes ein neuer Text geschrieben wird. Manchmal wird die Urschrift ein wenig abgekratzt, manchmal steht das Neue auch frech mitten im Alten.

Dieses Model des Überschreibens nützt in heimtückischer Weise die Erziehungswissenschaft, wenn Pädagoginnen in die alte Schrift der eigenen Zähmung die Gebrauchsanweisungen für die kommende Generation hineinschreiben.

Der kurze Teil des Romans ist mit Meeresbrise überschrieben und erklärt in vier Zeilen die Erwachsenenwelt, die aus reziproken Kindheitsbildern zusammengesetzt ist. „Aus der älteren Schwester wird eine jüngere, aus der Stadt wird ein Dorf, aus der Großpackung Waffelbruch werden Kekse, die blonde Lehrerin bekommt rote Haare und wir alle falsche Namen. Damit trete ich ein in die Welt.“ (117)

Das Ende eines Erziehungsprozesses kann man als Rezensent ruhig spoilern, denn es kommt ohnehin immer etwas anderes heraus.
Der Roman erzählt sich aus jenen Sätzen, die den heranwachsenden Töchtern zugeworfen werden nach der Methode, mach was draus. Dadurch ergibt sich ein penibel schlichter Erzählstil aus Wir-Sätzen, wie er in Kinderliedern gesungen wird. Die Wir-Heldinnen wachsen sich selbst erziehend ohne Väter auf, der Begriff „alleinerziehend“ erfährt eine Verschärfung. Der eine Vater hat sich über jene Brücke gestürzt, zu der die Kids gehen, wie andere auf den Spielplatz. Dem anderen Vater ist wie bei gewissen Spezien im Tierreich die Zeugung nicht gut bekommen und er hat sich aus dem Staub gemacht. – „Unsere Väter bestehen aus Wörtern.“ (13)

Mutter versorgt die Töchter mit dem Nötigsten, was Sprache, Lebenssinn, Kleidung und Nahrung betrifft. Sinnbild für diese Ausstattung ist die Einheitskleidergröße, beide Girls tragen das gleiche Modell, der einen hängt das Kleidchen vom Leib, bei der anderen überdeckt der Leib das Kleidchen.

Wegen der permanenten Gutenachtgeschichten, die vorerst keinen Sinn ergeben, treten die beiden als Märchenfiguren auf, mal sind sie Prinzessinnen, mal Froschköniginnen.

Als sie sich in der Phantasiewelt halbwegs eingerichtet haben, müssen sie sich neue Namen geben, waschen und sorgfältig sitzen: eine fremde Frau ist angesagt, die sie kennenlernen möchte. Die Fürsorgerin geht stracks nach einem Katalog die diversen Erziehungs- und Hygienevorschriften durch, der die Kids nur zum Teil entsprechen. Kein Wunder, dass das Klo nicht funktioniert, wenn Mama darin ihre psychischen Rituale abhält und mit fremden Stimmen spricht.

„Wir können nicht wie andere Kinder spielen.“ (40)

Tatsächlich haben die Heldinnen eine individuelle Ansicht von Spiel und Realität. Wenn sie ein Rad stehlen, so ist das Spiel, wenn sie etwas nicht wissen, schauen sie im Kinderlexikon nach, ob es Spiel oder sonst was ist.

Sie verstehen auch nicht, wie die Lehrerin nachmittags mit ihrem eigenen Kind zu Hause Schule spielt, als ob das Realität wäre. Als die Mädchen einer Spielpuppe über den Weg laufen, reißen sie dieser sofort die Haare aus, damit sie realistische Züge bekommt.

Im Crescendo-Modus treten plötzlich seltsame Gerüche auf, die sie Meeresbrise nennen. Andere rümpfen darüber die Nase, sie selbst aber wissen, dass es mit diesen Löchern zwischen den Beinen zu tun hat, die seltsam riechen, und hinter denen plötzlich viele her sind.

Plötzlich sind die beiden zu alt für den Froschkönig (100), aus dem Wir werden zwei Ichs und die eine Schwester verlässt die andere, um sich auf den Weg zur Meeresbrise zu machen.
Der Rest ist schon als Vierzeiler erzählt.

Carolina Schutti hat sich in Theorie und Praxis des Romanschreibens vortrefflich weiterentwickelt, ihr gelingt ein Erzählsprung wie den Heldinnen der „Meeresbrise“. Aus früheren Büchern der verzagten Germanistikliteratur mit musikalische Schlieren ist eine rotzfreche Methode geworden, das Genre Erziehungsroman so zu erzählen, wie es sich gehört: Mit kurzen Axthieben wird der Pädagogik unerbittlich zu Leibe gerückt.

Carolina Schutti, Meeresbrise. Roman
Graz: Droschl Verlag 2023, 120 Seiten, 21,00 €, ISBN 978-3-99059-126-0

 

Weiterführende Links:
Droschl Verlag: Carolina Schutti, Meeresbrise
Wikipedia: Carolina Schutti

 

Helmuth Schönauer, 12-02-2023

 

Bibliographie

AutorIn

Carolina Schutti

Buchtitel

Meeresbrise

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2023

Verlag

Droschl Verlag

Seitenzahl

120

Preis in EUR

21,00

ISBN

978-3-99059-126-0

Kurzbiographie AutorIn

Carolina Schutti, geb. 1976 in Innsbruck, lebt in Innsbruck.