Birgit Birnbacher, Wovon wir leben

birgit birnbacher, wovon wir lebenSeit die vielgepriesene Arbeit selbst bei Arbeiterparteien ihren Stellenwert verloren hat, sinnieren immer mehr an den Rand der Gesellschaft gestülpte Menschen während ihrer Spaziergänge als Freigesetzte darüber nach, „wovon wir leben“.

In der Literatur wird das Thema Arbeit für jede Generation neu aufgerollt, wie sich ja auch die Arbeit stets neu einkleidet und den Menschen an den Hals wirft. Mit der sogenannten Literatur der Arbeitswelt übernahm im vorigen Jahrhundert die Literatur für kurze Zeit gar die Themenhoheit in der Politik, mit den Aktionen „Bitterfelder Weg“ (DDR) und „Grabe wo du stehst“ (BRD / AUT) wurde für kurze Zeit die Politik literarisch und die Literatur politisch – der Traum aller Germanisten.

Birgit Birnbacher hat ähnlich dieser Rezensionspräambel eine Menge Arbeits-Input gespeichert, ehe sie sich an das Schreiben eines „Arbeits-Romans“ heranmacht. Ihr Zugang ist freilich am ehesten mit dem einer Sozialarbeiterin zu vergleichen, eine Menge „Arbeits-Verstörter“ erzählen sich mehr oder weniger schlüssig selbst ihre Narrative, um die Lage auszuhalten.

Der Roman „Wovon wir leben“ ist ein unterhaltsamer Gebrauchsroman, das Schicksal der arbeitslosen Figuren packt uns wie sonst das Schicksal eines Kriminalobersten, der die Arbeit in den Krimis hasst. Für die Unterhaltung ist schließlich jedes Mittel recht.

Ein zweiter Nutzen ist jener des „Gebrauchs“, jeder kennt jemanden, der ein ähnliches Schicksal wie jemand im Roman hat. Und das Gespräch über den Roman ermöglicht denn auch das Gespräch über die Verwandtschaft oder Liebschaft, je nachdem, was nach der Lektüre zu Diskussion ansteht. Folglich ist der Roman wie geschaffen als Klassenlektüre, er ist längst in allen Lehr-Listen zur Gegenwartsliteratur eingetragen, sofern Literatur überhaupt noch unterrichtet wird.

Obwohl der Roman so selbstverständlich zynisch daherkommt, wie es sonst nur das Leben zu dirigieren imstande ist, ist der Fall der Heldin Julia Noch bestens durchkomponiert wie ein Kartenspiel. Die Figuren haben ihren Status, jeder weiß, wo es in der Befehlskette langgeht, die Spielregeln sind schlicht wie beim Watten oder ähnlichem Wirtshaus-Spiel, das quer durch den Roman gespielt wird. Und das Publikum ist in so einer Erzählkonstellation man am besten man selbst. Wenn man sich die Chose nämlich erzählen kann, verläuft sie auch als Text halbwegs erträglich.

Der Plot ist streng wie die Themenführung bei einer Talkshow. Die Ich-Erzählerin Julia Noch ist Krankenschwester im Ausnahmezustand und macht schließlich einen Arbeitsfehler an einer Patientin, die beinahe an einem allergischen Schock umkommt. Julia packt ihre Habseligkeiten aus dem Arbeitsspind und merkt an dieser kleinen Tasche, dass ihr gesamtes Leben in einem kleinen Behälter Platz hat.

Die Heldin kehrt heim in ihr Dorf im sogenannten „Innergebirg“, dort hat sich nicht nur die Arbeitswelt radikal verändert. Straff formuliert könnte man sagen: Überall sitzen in zu großen Häusern Männer herum, denen die Frauen davongelaufen sind. Alkohol und Kartenspiel beherrschen die Restkommunikation, über der ein großes Schweigen liegt. Nicht nur die Dörfer sind entkernt, auch die Gebäude und die Bewohner dieser Kulissen sind es.

Julia versucht auf drei Ebenen der Atemlosigkeit zu entkommen und ihrem Lungenleiden halbwegs zu entsteigen.

Erstens durch das Aufräumen an sich selbst, indem falsche Bilder aus Kindestagen zurechtgerückt werden und so der Realität im leblosen Dorf standhalten.

Zweitens durch das Aufbrechen der Familienrollen im engsten Kreis. Mutter hat Vater längst verlassen und verbringt ihre Zeit mit Bootfahren in Sizilien. Der „defekte“ Bruder sitzt schon seit Jahren in einem Betreuungsheim. Der Vater schwebt als sein eigener Alkoholgeist durch die Räume und macht ab und zu auf Eigenregie Holz im Wald.

Drittens mit einer Aussteigerbekanntschaft zu einem „Städter“. Dieser hat bei einem Preisausschreiben ein Grundeinkommen für ein Jahr gewonnen und seinen Job als Vermessungsbeamter aufgegeben. Mit dem Gewinn kam auch ein leichter Herzinfarkt, der ein günstiges Einquartieren im Sanatorium ermöglicht. Jetzt ist er der ideale Gesprächspartner für eine Krankenschwester, die der Beruf krank gemacht hat.

Die Geschichte entwickelt sich auf diesen drei Ebenen keinesfalls weiter, sondern auf jeder Ebene drehen sich die Figuren einmal im Jahreskreis.

Die Erzählerin kommt wieder zu Luft und arbeitet mit Hilfe einer Freundin fortan in der Stadt als technische Zeichnerin.

Vater verletzt sich mit der Axt im Wald und wird ein Pflegefall, er überlebt letztlich nur, weil man seine Mutter aus Sizilien holt. Diese blickt am Ende des Romans stumm aus dem Store hervor und man muss befürchten, dass diese Geschichte nicht gut ausgeht.

Der Bruder wird jenseits aller technischen Medizin von der Erzählerin soweit wiederhergestellt, dass er selbständig im Heim weitermachen kann.

Und dem Städter wird nach einem Jahr Grundeinkommen klar, dass man sich Sinn nicht kaufen kann. Erst als er sich um die Dorfziege kümmert, die bislang nur als Spielpfand für die Kartenrunden gedient hat, bekommt er Zugriff auf die Abgründe des Dorflebens.

Birgit Birnbacher hat den Roman nach Art eines Kartenspiels zusammengestellt. Als Leser ist man mitten im Spiel, kann es aber nicht beeinflussen, – nur die Daumen halten, dass der eine oder die andere es überleben.

„Wovon wir leben“ ist natürlich eine Hommage an Thomas Bernhard, manches ist eine aktuelle Studie zur Auswirkung des „Frost“ auf die nächsten Generationen. Und die Kreisbewegungen der Kommunikation sind ähnlich stupide in Wallung gebracht, wie es die Satzschleifen in Bernhards „Watten“ einst bewirkt haben.

Das Dorf ist aktuelle Gegenwart. Es ist kurz vor Einführung der Digitalisierung in einen sozialen Tiefschlaf gefallen. Wenn wir durch Navi-Fehler manchmal von der Autobahn abgeleitet werden, können wird diese Dinger noch sehen. In der Fachsprache werden sie „abandoned Immobilen“ genannt, das scheint übrigens das Gegenteil von Arbeitswelt zu sein.

Birgit Birnbacher, Wovon wir leben. Roman
Wien: Zsolnay Verlag 2023, 192 Seiten, 24,70 €, ISBN 978-3-552-07335-7

 

Weiterführende Links:
Zsolnay Verlag: Birgit Birnbacher, Wovon wir leben
Wikipedia: Birgit Birnbacher

 

Helmuth Schönauer, 24-02-2023

Bibliographie

AutorIn

Birgit Birnbacher

Buchtitel

Wovon wir leben

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2023

Verlag

Zsolnay Verlag

Seitenzahl

192

Preis in EUR

24,70

ISBN

978-3-552-07335-7

Kurzbiographie AutorIn

Birgit Birnbacher, geboren 1985, lebt in Salzburg.