Ludwig Roman Fleischer, Verloren

ludwig roman fleischer, verlorenVerloren stellt man sich am besten als eine Erzählschüssel vor, in der wie bei einer Tombola Geschichten liegen, die „Gedanken-verloren“ gezogen werden können. Jede einzelne Erzählung hat einen unvergleichlichen Plot, der sich rasch ins Leseregister des Users einprägt. Innerlich verbunden sind die Geschichten durch die Formel: Alle Helden haben irgendwie oder irgendwas verloren.

Ludwig Roman Fleischer hat eine einzigartige Publikationsmethode entwickelt, um der Unsitte auszuweichen, das Lebenswerk als vorgelassenen Papierhaufen in einem Institutskeller zu vergraben. Er stellt aus seinem umfangreichen Erzählwerk sogenannte Jahresbände zusammen, die ein besonders drängendes Problem behandeln. Das aktuelle Thema lautet: Wie geht man mit Niederlagen und Verlusten um.

Die 25 Erzählungen dazu sind in den letzten fünf Jahrzehnten entstanden. Sie zeigen nicht nur das Glühen der Helden in der damals formatierten Gegenwart, sondern durch leichte Korrekturen sind diese eindringlichen Geschichten auch nach Jahrzehnten noch imstande, die Herzen von Autor, Helden und Leser zum Glühen zu bringen. Dieses Aufflackern wird in der Archivwissenschaft weniger euphorisch „emotionales Archiv“ genannt. Die aktuelle Erzählsammlung ist als Update zu literarisch permanent durchgespielten Themen zu sehen.

„Haus der Kindheit“ (9) erzählt von einem am Leben gereiften Helden, der die wichtigsten Stationen seiner Biographie als Modell nachbaut. Im Mittelpunkt steht dabei das Haus der Kindheit, das er aus der Erinnerung heraus zu modellieren gedenkt. Der Zeitpunkt ist günstig, denn das echte Haus wird in genau jenen Bau-Schritten abgerissen wie er seine Bausteine ins Modell klebt. Dekonstruktion und Konstruktion fallen auf wundersame Weise über einander her.

Diesen Plot kann man bei etwas Phantasie als Poetologie lesen: In jenem Maße, wie der Autor die Welt in Schrift und Fiktion vor sich aufbaut, geht draußen in der gemeinsamen Welt von Autor und Leser das Modell für die erinnerte Geschichte verloren. Im Archiv später schließt sich der Erkenntniskreis, wenn von der wirklichen Welt nichts mehr vorhanden ist, aber in den Regalen alles in Gestalt von Bild und Text analog abgespeichert ist.

„Die Schneemannwerdung“ (35) kümmert sich um das Erwachsenwerden eines Helden. Großvater und Vater zeigen dem jungen Buam, wie man einen Schneemann baut. Dabei bezieht sich der Vater auf seine Erfahrung als Sohn des Großvaters, der die Urquelle der Schneemannbauerei ist. Die vorhandenen Baustoffe Wasser und Eis werden künstlerisch bearbeitet zu jenem Gebilde, das in den Urbildern der Vorfahren als Schneemann entwickelt ist. Der Schneemann ist zeitlos, allein die Knöpfe als Brustwarzen und Nabel referieren auf die jeweilige Gegenwart. Großvater hat noch einen philosophischen Sager parat: Eigentlich sind wir alle nur Schneemänner! Und der Held wird später feststellen, dass Pubertät und Erwachsenwerden genauso funktionieren wie das Schneemannbauen.

Unter dem aufwühlenden Titel „Alpenglühen“ (81) steht ein Bild im Mittelpunkt, das ein Amateurkünstler zu therapeutischen Zwecken gemalt hat, er hat nämlich das Malen im Gefängnis gelernt. Das Bild ist ausgesprochen kitschig ausgefallen, was den Sachverhalt überdecken soll, dass es sein Erzeuger mit der Wahrnehmung nicht ganz genau nimmt. So verschwindet offensichtlich die Sexualität hinter einem Tabuvorhang und taucht als Kitsch wieder auf. Der Held hat offensichtlich vor Zeiten etwas falsch gemacht, indem er die Freundin Mira als Modell falsch rezipiert hat und ihr zu nahe gekommen ist. Jetzt berät ein Gremium, ob man ihn resozialisieren kann, während dem Künstler der Kopf platzt. – Die Geschichte lässt sich vielleicht mit „Kontroll-Verlust“ umschreiben.

Der Text ist in aufgewühlter Atmosphäre 1993 in Lienz geschrieben, kein Wunder also, dass am Schluss jemand sagt, dass zwar ums Bild schade sei, nicht aber ums Modell, das zu Schaden gekommen ist.

„Aufklärung“ (97) vollzieht sich für den Schüler Armin auf zwei Ebenen. Einmal ist es die plumpe Aufklärung, die der groben Sexualität nachstellt. Der Onkel Wolf fragt Armins Mutter nämlich unverhohlen, ob er ihr eine Injektion geben solle. (99) Danach geht es immer ab ins Zimmer, wo es Injektionsgeräusche gibt. Armin will jedoch eine größere Aufklärung finden, nämlich wer er ist, und warum die Welt so ist. Aus diesem Grund schwänzt er die Schule und fährt mit dem Vormittagszug von Wien nach Innsbruck in die Haymongasse, wo nicht nur mythologisch ein Riese wohnt, sondern auch seine Oma. Diese erzählt ihm ein paar Dinge, die er noch nie gehört hat. Von ihr lernt er auch, dass man zuerst die Begriffe lernen muss, ehe man die gemeinten Sachen begreifen kann.

Die heilige Familie wörtlich genommen ergibt seit Jahrhunderten Desaster und Identitätsverlust. Etwas verbrämt als „sagrada familia“ (149) bezeichnet, schwärmt ein Priester immer von der idealen Familie, die irgendwo zwischen Glocken und Predigt ihren Familiensitz hat. Dem Ich-Erzähler fällt auf, das der Priester seinem Werdegang recht zugetan ist. Lange geht dieses beinahe schleimige Verhältnis gut, bis sich bei einer Blutuntersuchung nach einem Motorradunfall herausstellt, dass der Priester der Vater ist, und die heilige Familie durch eine günstige Blutgruppe zusammengehalten wird. Vertrauensverlust macht sich breit: Glaube nie, was man dir über die Abstammung erzählt.

„Nachbild“ (209) ist auch so ein Begriff, der für den Betrieb des emotionalen Archivs unerlässlich ist. Der Erzähler berichtet von seinem Trauzeugen, der sich eines Tages wieder ins unerforschte Osttirol zurückzieht, wo er auf einem Bauernhof eine Familie anlegt. Die Spuren versickern wie so oft, wenn die Studienzeit längst ausgesessen und absolviert ist. Bei einer vagen Recherche im Netz erfährt der Erzähler, dass sein Trauzeuge an Krebs gestorben ist. Was bleibt, ist dieses Nachbild, das ohne Nagel auf einer Zeitachse befestigt ist. Der Trauzeuge hat Christian geheißen, weshalb der Erzähler ein paar Blumen-Pelzer, welche die Zeit überlebt haben, Christiannien nennt.

Ludwig Roman Fleischer ist ein literarischer Zeitausstatter, seine Requisiten sind verschollene Helden, erledigte Aufträge und abgehangene Sehnsuchtswürste. Durch permanentes Changieren mit diesen Schicksalen versucht er bewusst zu machen, was keineswegs verloren gehen darf.

Ludwig Roman Fleischer, Verloren. Erzählungen.
Klagenfurt: Sisyphus Verlag 2023. 224 Seiten. EUR 15,80. ISBN 978-3-903125-78-0

 

Weiterführende Links:
Sisyphus Verlag: Ludwig Roman Fleischer, Verloren
Wikipedia: Ludwig Roman Fleischer

 

Helmuth Schönauer, 04-10-2023

Bibliographie

AutorIn

Ludwig Roman Fleischer

Buchtitel

Verloren

Erscheinungsort

Klagenfurt

Erscheinungsjahr

2023

Verlag

Sisyphus Verlag

Seitenzahl

224

Preis in EUR

15,80

ISBN

978-3-903125-78-0

Kurzbiographie AutorIn

Ludwig Roman Fleischer, geb. 1952 in Wien, lebt in Wien.