Li Mollet, später

li mollet_späterWährend politische Entscheidungsfragen überall auf der Welt mit ja oder nein beantwortet werden, sagt man in Österreich auf eine Entscheidungsfrage oft: „später“. Bereits Kindern wird dieses Wort beigebracht, wenn sie um etwas betteln. Ein Leben lang beherrscht dieses Wort die Entscheidungsfindung, und selbst wenn in hohem Alter jemand um Sterbeassistenz bittet, wird er auf später verwiesen.

Li Mollet hat mit ihrem Besinnungsbuch über diese Zeitangabe natürlich anderes im Sinn. Bei ihr geht es um „Zeitinstallationen“, die womöglich nicht in der Gegenwart dechiffriert werden können, sondern einen späteren Zeitpunkt der Realisation ins Auge fassen.

Unter dem magischen Begriff „später“ arrangiert die Autorin 104 Situationen, die unter Anwendung von Spezialwerkzeug zu einem zeitverzögerten Zustand führen können. Im Sinne der konzeptuellen Literatur ist es dabei oft gar nicht notwendig, dass die Leser diese Arrangements nachstellen und nachspielen. Bereits durch intensives Lesen verformen sich die Texte und werden, obwohl prosaisch pragmatisch formuliert, zur puren Poesie.

Das Werkbuch hat folglich keine Seitenangabe, sondern eine ausgeschriebene Zahl als Werkblatt, jedem Projekt entspricht ein Blatt.

Im strengen Layout sind die Projekte geordnet wie die chemischen Elemente auf einer Elementartabelle. In den oberen zwei Dritteln rechtsbündig ist die Schreib- oder Projektsituation komprimiert zu einem Prosawürfel. Darunter kommen Nummerierung und Kurzangaben für einen etwaigen Katalog, die Inschriften lassen sich auch als Bildunterschriften verwenden. In blasser Schrift schließlich folgt eine Anweisung an die Sinnesorgane, wie sie diesen Zustand konservieren, evozieren oder auf später verschieben könnten.

Diese drei Kompositions-Elemente Prosawürfel – Kurztext – Empfindungsanleitung lassen sich austauschen, sodass sich die Menge der angedachten Projekte schier exponentiell vergrößert wird.

Schlüsselwörter ermöglichen es, bei einem raschen ersten Durchblättern einen gewissen Sound zu erlesen, wenn es heißt: draußen | Verträge | Altern | Sofa | Vergilbtes | Korridor | Korb mit Deckel.

Diese erste Orientierung verschafft jene Gelassenheit, die nötig ist, um die einzelnen Sequenzen durch Lesen zum Erblühen zu bringen.

„Schön wäre es, ich läge im Garten oder im Bett und läse mich schläfrig. Das Kind will Bären in der Höhle spielen. Winter sei es. Ich bringe den Vorrat auf einem Teller.“ (11) Allmählich verfestigt sich die Situation, die Erzählerin ist nämlich zu Freunden gefahren, in einer großen Stadt wäre sie fast verlorengegangen. Wieder zu Hause macht jemand die Tür auf und stellt fest, du kommst spät. – Jetzt gilt es, diese Konstellation zu verfestigen, verschiedene Vasen bieten sich an. Gleichzeitig ergeht an den ästhetischen Übersinn die Empfehlung, die dünne und die italienische Vase bäuchlings aneinander zu stellen.

Diese Aufbereitung ermächtigt es, auf allen drei Erzählebenen „später“ an diesem eingefrorenen Standbild weiterzuarbeiten, es zu entfrosten und die künstlerische Mikrowelt zum Leben zu erwecken.

Natürlich korrespondieren die einzelnen Werkblätter innig miteinander, einmal geht es auf der linken Seite um Masken, die geschnitzt, verarbeitet und ausgeleuchtet werden müssen, auf der rechten Seite sind indes Empfehlungen zusammengetragen, wie der richtige Gebrauch eines Handys zu einem künstlerischen Akt werden könnte.

Die Zeitangaben lassen sich nur indirekt erschließen, alte Materialien wie Körbe, Geflecht, Hölzer oder Gräser lassen auf einen innigen Kontakt zur Natur schließen, die sich in Gestalt einer wohlgesonnenen Kindheit auftut.

Lehm, Ton und Briefwaage sind Gebrauchsgegenstände, Werkzeuge und Kunstwerke in einem, sie verändern vor den Augen der Leser ihre Funktion.

Der Schluss dieses Unterfangens bereitet die Archivierung vor, in der später einmal die Dinge ihre Ruhe finden werden. Im konkreten Fall ist ein Korb mit Deckel gemeint, worin etwas aufbewahrt wird, was sich noch nicht zeigt. Die Akteurin jedenfalls beobachtet das Geschehen des Archivierens mit zugekniffenen Augen, um der Schärfe der Zeit zu entgehen, eine Katze streicht währenddessen auf dem Sims auf und ab, als hätte sie etwas von Schrödinger gehört, der mit seinem Existenz-Experiment alle in den Wahnsinn des Philosophierens treibt.

Einhundertvier / der große Korb mit Deckel // „was gewesen sein wird“. (104)

Dieses Werkbuch schreit geradezu nach Anwendung, mit ihm könnte man einen Sommer lang lesen, womöglich ein einziges Buch, aber auf hundert und vier Methoden.

Li Mollet liefert mit „später“ einen Katalog zu einem Zeit-Museum, das seine Gäste mit Ironie und Gelassenheit begrüßt.

Li Mollet, später.
Klagenfurt: Ritter Verlag 2023, 112 Seiten, 19,00 €, ISBN 978-3-85415-653-6

 

Weiterführende Links:
Ritter Verlag: Li Mollet, später
Wikipedia: Li Mollet

 

Helmuth Schönauer, 12-04-2023

Bibliographie

AutorIn

Li Mollet

Buchtitel

später

Erscheinungsort

Klagenfurt

Erscheinungsjahr

2023

Verlag

Ritter Verlag

Seitenzahl

112

Preis in EUR

19,00

ISBN

978-3-85415-653-6

Kurzbiographie AutorIn

Li Mollet, geb. 1947 in Aarberg, lebt in Bern.