Ulrich Schlotmann, Vivat Vivat Hoher Priester

ulrichc schlotmann_vivat vivat hoher priesterDen dauerhaftesten Eindruck erwecken meist jene Bücher, die beim ersten Durchblättern als Anstrengung empfunden werden. Der erste Eindruck, nämlich – fett, schwer, barock und schelmisch verzweigt – bleibt ein Leben lang, auch wenn sich später in der Lektüre zunehmend konkret fixierter Sinn einstellt.

Ulrich Schlotmann legt jedenfalls ein fettes Buch vor, wie das in der Rezeptionsästhetik gerne genannt wird. Schon im ersten Satz ist alles klar, was ja kein Wunder ist, es gibt nämlich nur einen Satz, welcher sich absatzlos auf fast dreihundert Seiten erstreckt. Am hinteren Cover wird dieses Textgebilde als „Wort- und Satzprozession“ empfohlen.

Die ersten Zeilen lauten: „Vivat Vivat Hoher Priester las man gegen Mittag eines schönen Tages Abend wie’s auf flatternden Reklamebannern in barocken Großbuchstaben krakelig verschnörkelten nah an unleserlich herangelangt waren beispiellos bizarren Sütterlinlettern geschrieben stand […]“ (7)

Dieses Zitat lässt sich nur mit Gewalt abbrechen, wie auch die Lektüre nur mit einem scharfen Bruch abgesetzt werden kann. Die Botschaft steht nämlich nicht so sehr in den einzelnen Wörtern, sondern besteht aus einem einzigen Sog. Vergleichbar dem Staubsauger, dessen Sinn der Sog ist, während das Rohr nur dazu dient, die Hände unterzubringen. Beim Vivat-Projekt ist das Buch sozusagen das Rohr, damit man die Hände beim Lesen wohin legen kann.

Neben dem Buchtitel wird in den ersten Zeilen auch das Verfahren genannt, nämlich der jäh einsetzende Sog und die darin verwirbelte Textluft als barockes Wörterelexier, bis hin zur krakeligen Schrift.

Um dem Vivat-Projekt gerecht zu werden, muss man andere Methoden zu Rate ziehen, als das übliche Ablesen von Text. Im Sinne von Elektronik könnte man das Buch als Motherboard auffassen, auf dem gewaltige Schaltkreise aufgepresst sind. Alles gehorcht einer gewissen Gleichzeitigkeit, andererseits aber saust so etwas wie der Lese-Strom in Milli-Sekunden-Manier durch das gelötete Gebilde.

Mit einer gewissen Routine wird man die Gleichzeitigkeit also unterbrechen und in einzelne Spannungsschübe zerlegen. Sogenannte Schlüsselwörter können dabei als Noppen dienen, an denen man die Lektüre-Zange anklemmt.

Wahllos ins Auge gesprungene Schlüsselbegriffe könnten sein: Miederwaren zum kleinen Spott- und Sparpreis (53) / im geheimen Kämmerlein der Redewendung klandestinen Vestibüle (61) / sich vollgesogen habende Kartonagen (147) / dreiviertellange Trachten trugen sie zum Festakt (199) / streichzarte Fleischmassen alias Madame Butterfly (251) / in der freien Natur zu verorten (288).

Allen diesen wahllos herausgerissenen Begriffsketten blutet vorne und hinten der Textstumpf, durch das Herausreißen aus dem Zusammenhang leiden die Fügungen bis zur Demenz. Andererseits werden diese Wortgruppen nur sichtbar, wenn man sie übungshalber in ihre Einzelteile zerlegt, wie man es in der Grundschule mit Pflanzen für das Bestimmungsbuch gemacht hat.

Der Schlussakkord dieser Prozession erlaubt immerhin hinten ein natürliches Ende: „ […] den eigenen vier Wänden entkam man nicht oder kaum mehr konsequenterweise nur mehr noch turnusmäßig ‚upgegradeten‘ Scherenschnitten als abschreckendes Beispiel enthielten.“

Dann folgt tatsächlich ein Punkt. Und quasi außerhalb des Textblockes folgt noch eine Regieanweisung: „Vivat Vivat Hoher Priester beschreibt den gegenwärtigen Stand einer sprachlichen Entwicklung, die in den letzten Jahren gefördert wurde durch die Stadt Graz, den Deutschen Literaturfonds, die Berliner Akademie der Künste, die Stiftung Preußische Seehandlung sowie das Künstlerhaus Edenkoben.“ (295)

Wenn man den Text „authentisch“ liest, er hält man ein dreihundertseitiges Gebilde im Kopf, das einem Spiegelbild des Textes entspricht. Wollte man daraus zitieren, könnte man gleich im Text nachschauen und ersparte sich die Transposition ins Lesegehirn.

Es entsteht also die Notwendigkeit, den Text mit einem Zusatznutzen zu lesen, um dieser Falle der puren Duplizität zu entgehen.

Das Vivat könnte somit als Materialspeicher gelesen werden:

  • um eine Hommage an Jean Paul und seinen Titan zu verfassen
  • um ein vierzig-stündiges Gebet anzustimmen, dessen Zielrichtung unbekannt ist
  • um in eine tiefe Meditation zu verfallen über die Sprache und den darin verborgenen Sinn
  • um einen gigantischen semantischen Schaltkreis mit dem Lesefinger abzufahren
  • um einen hemmungslos poetischen Kommentar zu versuchen
  • um eine Künstliche Intelligenz zu speisen

Ulrich Schlotmanns Projekt hinterlässt auf den ersten Blick Verblüffung, auf den zweiten Blick Genugtuung, dass hier endlich jene Innovation vorgestellt wird, von der wir alle bei jedem neuen Buch träumen, und im dritten Blick entsteht beinahe wohltuende Heimat, wenn man das „Vivat Vivat“ mit den anderen Meilensteinen des Autors verknüpft, mit den „feuchten Wäldern“ (1996), „dem bluten, wald“ (1999) und der „Dichterarbeit“ (2016).

Ulrich Schlotmann, Vivat Vivat Hoher Priester
Klagenfurt: Ritter Verlag 2022, 296 Seiten, 27,00 €, ISBN 978-3-85415-640-6

 

Weiterführende Links:
Ritter Verlag: Ulrich Schlotmann, Vivat Vivat Hoher Priester
Wikipedia: Ulrich Schlotmann

 

Helmuth Schönauer, 06-07-2023

Bibliographie

AutorIn

Ulrich Schlotmann

Buchtitel

Vivat Vivat Hoher Priester

Erscheinungsort

Klagenfurt

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Ritter Verlag

Seitenzahl

296

Preis in EUR

27,00

ISBN

978-3-85415-640-6

Kurzbiographie AutorIn

Ulrich Schlotmann, geb. 1962 in Balve im Sauerland, lebt in Berlin.