Christopher Clark, Frühling der Revolution
„In ihrer Intensität und geographischen Reichweite waren die Revolutionen von 1848 einzigartig – zumindest in der europäischen Geschichte. Weder die Französische Revolution von 1789 noch die Revolution von 1830, weder die Pariser Kommune von 1871 noch die russischen Revolutionen von 1905 und 1917 lösten eine vergleichbare transkontinentale Lawine aus.“ (S. 9)
Der Historiker Christopher Clark setzt sich in seinem fulminanten umfangreichen Werk mit Vorgeschichte, Verlauf und den Auswirkungen der Revolution von 1848 auseinander, die trotz scheinbarer Erfolglosigkeit die Grundlagen für die sozialen, gesellschaftlichen und politischen Veränderungen im späten 19. und 20. Jahrhundert gelegt hat.
In neun umfangreichen Kapiteln werden auf mehr als 1.000 Seiten die gesellschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse rund um die Revolutionen von 1848 in den unterschiedlichen europäischen Staaten und Regionen analysiert. In einer kurzen Einleitung wird das weitverbreitete Bild der Erfolglosigkeit der Revolution in Frage gestellt und die Bedeutung der zahlreichen in der Revolution entwickelten Strukturen, Ideen und politischen Strömungen für die weitere Entwicklung Europas hervorgehoben.
Im ersten Kapitel „Soziale Frage“ kommen die Ursachen der revolutionären Bewegung zur Spracche, die in der wirtschaftlichen Not, den Ernährungskrisen und den katastrophalen Arbeitsverhältnissen der armen Bevölkerung zu suchen sind, die sich vor dem Hintergrund zunehmender Industrialisierung und Bevölkerungswachstums entwickeln. Dabei werden Entwicklungen in den unterschiedlichsten Regionen Europas anschaulich dargestellt.
Kapitel 2 „Ordnungskonzepte“ zeigt die verschiedensten Formen des gesellschaftlichen Aufbegehrens, von der Emanzipation der Frau, über die Arbeiterklasse, die Nationalitäten bis hin zur Sklavenbefreiung, in denen die Richtlinien gesellschaftspolitischen Handelns neu ausgerichtet worden sind. Kapitel 3 „Konfrontation“ beschäftigt sich mit den Reaktionen der politischen Klassen in den einzelnen Ländern auf diese neuen gesellschaftlichen Herausforderungen und der zunehmenden Konfrontation mit den neuen politischen Bewegungen.
Das 4. Kapitel „Explosionen“ analysiert und schildert die gewalttätigen Auseinandersetzungen während der Revolution von 1848 zwischen den verschiedenen, oft unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen mit der Staatsmacht, die unterwartet schnell erfolgreich waren und zu „Regimewechsel“ (Kapitel 5) geführt haben. Kapitel 6 „Emanzipation“ zeigte die emanzipatorischen Folgen der Revolution für verschiedene gesellschaftliche Gruppen wie Juden, Roma und Sinti auf.
Kapitel 7 „Entropie“ setzt sich mit der komplexen Zeit nach der Revolution auseinander, in der die Vorstellungen und Ziele der verschiedenen Gruppierungen und Klassen im Zuge der Neugestaltung der politischen Verhältnisse und Einrichtungen aufeinandergeprallt sind. Während das liberale Bürgertum das Ende der Revolution verkündete, stand sie für die Arbeiterschaft erst am Anfang. Auch waren die neuen Machthaber mit den zahlreichen wirtschaftlichen Krisen häufig überfordert, was den gegenrevolutionären Kräften in die Hände spielte (Kapitel 8 „Gegenrevolution), die mit zunehmender Gewalt die Verhältnisse vor 1848 weitgehend wiederherzustellen oder abzuschwächen versucht hat. Das letzte Kapitel „Nach 1848“ bietet einen Ausblick in die Bedeutung und Auswirkungen der Revolution für die Zukunft in den verschiedenen Ländern und Regionen Europas.
Christopher Clarks Arbeit zeichnet sich durch eine tiefgehende Analyse der unterschiedlichen gesellschaftlichen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen und Strukturen in den verschiedenen europäischen Ländern und Regionen ebenso aus, wie durch seine zahlreichen detailreichen Darstellungen von Ereignissen und Quellenberichten.
Clark macht mit dem analytisch distanzierten Blick des Historikers die verschiedenen Interessen, Widersprüche aber auch Missverständnisse zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Protagonisten deutlich und verständlich. Das überaus empfehlenswerte Sachbuch eröffnet somit einen ebenso spannenden wie informativen Blick in die Vergangenheit und hilft auch heutige politische Entwicklungen besser zu verstehen und einzuordnen.
Christopher Clark, Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt, 42 s/w-Abb. und 5 Karten, übers. v. Norbert Juraschitz / Klaus-Dieter Schmidt / Andreas Wirthensohn [Orig. Titel: Revolutionary Spring: Fighting for a New World 1848-1849]
München: Deutsche Verlags-Anstalt 2023, 1168 Seiten, 49,95 €, ISBN 978-3-421-04829-5
Weiterführende Links:
Deutsche Verlags-Anstalt: Christopher Clark, Frühling der Revolution
Wikipedia: Christopher Clark
Andreas Markt-Huter, 02-09-2024