Klaus Ebner, Fünfzig
Am Morgen wacht der Erzähler auf wie der Käfer in der Verwandlung von Franz Kafka und stellt fest, dass sein Körper fünfzig Jahresringe hat. Heute sollen Geburtstagsfeiern losgehen, aber der Held ist wie gelähmt von seinem eigenen Leben und bleibt regungslos liegen, während sein Gehirn fünfzig Jahre abarbeitet. Klaus Ebner findet einen makabren Zugang, ein halbes Jahrhundert „Eigenleben“ als historisches Gesellschaftsgemälde gespiegelt im kleinen Einzelkopf originär darzustellen.
In fünfzig Erzähl- und Erinnerungsschüben geht der Ich-Erzähler ein Leben durch, das wahrscheinlich seines ist. Aber was ist schon ein echtes Leben, wenn man von sich selbst sagt: „Ich denke es mir aus.“ (189)
Die Geburtstagsgedanken nehmen zwar im Bett ihren Ausgang, doch dann „spielen“ sie vor allem auf dem Klo, wohin sich der Jubilar wegen seiner Verdauungsprobleme flüchten muss. Dahinter steckt die Überlegung, dass Gehirn und Bauch ja miteinander korrespondieren und eine Reflexion folglich von beiden Hemisphären abgearbeitet werden muss, soll es zu einer ausgewogenen Erinnerung kommen.
Außerdem ist der Toilettenbereich längst wieder zum idealen Kommunikationsknoten geworden wie in früheren Kulturen, laufen doch Handy, Verdauungslesebuch und Zeitung als Wischpapier in der Hand des sanitär abgeschotteten Menschen zusammen.
Der Gedankenfaden läuft in ungezügelter Peristaltik ab, oft sind es Assoziationen, die sich scheinbar unlogisch aneinanderschmiegen wie Jahre, die meistens ungeordnet aneinander andocken, ehe sie ab und zu als runde Zahl oder Jubiläum aufblinken.
Die Zahl fünfzig ist nur vom Schriftbild her gesehen eine runde Sache, ansonsten besagt sie nicht viel, sie ist wahrscheinlich nicht einmal geeignet, um die Hälfte des Lebens abzubilden.
Der Roman ist logischerweise in 50 Kapitel unterteilt, die jeweils mit Schlüsselwörtern einsetzen und einen Themenkomplex anreißen, ohne ihn vielleicht zu beenden. Die Kapitel gleichen Essays mit Fade-out-Effekt, das Thema versickert allmählich, ohne dass daraus Schlüsse gezogen werden müssen.
Als die drei Hauptstränge beten sich wie bei vielen „Autobiographien“ die Stränge Familie, Ausbildung, Arbeit an, wobei naturgemäß alle Bereiche ausgedacht sind. Autobiographie könnte man bei Klaus Ebner als „ausgeklügelte Beschreibung“ übersetzen.
Die vorgestellten Fakten klingen freilich überzeugend und erfüllen die Aufgabe jeder Lebensbeschreibung: Der Held muss eine Geschichte abliefern, die für ihn selbst glaubhaft ist und die ihm so das eigene Schicksal erträglich macht.
Zur Familie fällt dem Helden vor allem das Plakative ein, wonach sein Vater früh gestorben ist und der heutige Geburtstag schon nahe an die Todeszone des Vaters heranreicht. Auch die Ehen fallen vor allem durch die ungewöhnliche Zahl sechs auf, die erste hat sechs Jahre gehalten, dann gab es sechs Jahre Eheersatz durch Lesen und Aufbau einer Privatbibliothek, ehe eine zweite Ehe einsetzen konnte. Die Söhne dieser Lebensform werden Primus und Sekundus genannt, die Töchter als Nachzüglerinnen Septima und Oktavia.
Zwischendurch bemerkt der Sinnierende, dass er die Kinder eigentlich vollends heraushalten will aus seinem Tun.
Unter dem Themenstrang „Bildung“ nehmen Sprachen einen markanten Platz ein. Dem Helden sind diese ans Herz gewachsen, als er in den Fremdsprachen passende Ausdrücke für Schlaganfall gesucht hat. Vielleicht treten überhaupt die wichtigen Entscheidungen wie Schlaganfälle auf, die nicht umsonst im Kopf in der Nähe von Demenz angesiedelt sind.
Nach der Uni schlägt die Erinnerung aus nach New York, danach treten erste Schwangerschaften auf, wobei nicht klar ist, wer der Vater ist. Sofort setzen Essays ein über Allergien, Blutbild und Computerspiele. Diese wiederum münden flugs in die Bereiche Familie, Geld und Vergessen.
Namenlos blieb ich und … vergaß meine Zukunftsträume. (107)
Während ein paar Jubiläumszahlen aufleuchten und dem Jahr einen besonderen Anstrich verleihen, vergeht die Zeit in einem unauffällig irdischen Tempo. Der Nachbar wohnt schon zehn Jahre nebenan und hat sich dabei überhaupt nicht verändert. Was sagt das über die Veränderungsfähigkeit des Jubilars aus?
Quasi als Festgäste zum Geburtstag treten dann noch ein paar lebensentscheidende Personen in den Erinnerungsstrom ein. Der Rennfahrer, der ständig zwischen Leben und Tod unterwegs ist, der Freund Witte, der als Katalanisch-Spezialist in mehreren Sprachen zu Hause, aber als Autor auf Kleinverlage angewiesen ist. Beides sind radikale Lebensformen.
Das brauchbarste Medium für Schreiben, Planen und Erinnern ist der Zettel! – Der Held ist durchaus aufgeregt, als er im „Genre Zettel“ die Urform der literarischen Agitation entdeckt. Jetzt scheinen allmählich Darm und Gehirn wieder ins Lot gekommen zu sein, der Geburtstag wird sich nicht vermeiden lassen.
Klaus Ebner gelingt es frivol und kühn, aus dem Bauch heraus ein intellektuelles Gedankengebäude aufzutischen und die Geschichte glaublich zu halten. Als Erzählmethode eignet sich „Fünfzig“ bestens, den jeweiligen Zeitgeist mit der individuellen Ausformung des Erlebten zu verschmelzen.
Klaus Ebner, Fünfzig. Roman
Wien: edition fabrik.transit 2024, 408 Seiten, 24,00 €, ISBN 978-3-903267-64-0
Weiterführende Links:
Edition Fabrik.Transit: Klaus Ebner, Fünfzig
Wikipedia: Klaus Ebner
Helmuth Schönauer, 02-06-2024