Barbara Köhler, Schriftstellen

barbara köhler, schriftstellen„Ihre Bücher sind Skulpturen und Depots zugleich.“ (238) SCHRIFTSTELLEN ist ein komprimierter Nachruf, bestehend aus verdichtetem Werküberblick, Biographie sowie Beschreibung der wichtigsten Thesen.

Barbara Köhler erfährt eine bemerkenswerte „Künstlerin-Erweckung“, als sie in der DDR mit den Phänomenen Zensur und Parteiprogramm konfrontiert wird, noch ehe sie eine Zeile geschrieben hat. Das Ausüben der Kunst ist vom ersten Augenblick an mit ihrem Verbergen verknüpft, nur so lässt sich an ungesicherten Stellen des Systems Literatur unterbringen und mit Sprengkraft versehen, wie bei jenem Eis, das bei Kälte die Felsen sprengt, in den es bei Wärme eingedrungen ist.

Barbara Köhler übt bei öffentlichem Licht den Beruf einer Kunstschmiedin aus, die freilich alles verwendet, was sich biegen und brechen lässt. Ein solches Material ist die Sprache, die vornehmlich in Textblöcke gegossen wird wie Inschriften. Im Jargon der Eingeweihten werden diese in dünner Schreibmaschinenschrift zur Kernschmelze gebrachten Texturen „Boxen“ genannt.

Die Literatur dieser subversiven Vorsicht kann sich unverfolgt an der Oberfläche der staatlichen Wahrnehmung halten, da sie ja als Kunsthandwerk eingestuft sind, und die Texte auf allen Materialien gepostet werden, nicht nur auf Papier.

Nach der sogenannten Wende bleibt Barbara Köhler eine Zeitlang ihrer alten Wohn-Gesellschaft verhaftet, es verändert sich bloß die Reisetätigkeit, die ihren Höhepunkt in der Formulierung findet: „Sie bereist die Sprache.“ Gleichzeitig erweitert sie ihre Methode der Subversion auf den Literaturbetrieb und insbesondere seine Untugend, in einen unbrauchbaren Kanon zu flüchten.

Der Text über die „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ stützt sich auf die zentrale Stelle exegetischer Literaturkritik, in einer Analogie zum Affen in Franz Kafkas Bericht an eine Akademie stellt die Antrittsvorlesung der Thomas-Kling-Poetikdozentur 2012 die Thesen von Subversivität und Unterhöhlung („Unterköhlung“) vor. Im literarischen Betrieb gilt es, sich zum Affen zu machen, als Schriftstellerin sollte man so tun, „als gäbe es ein Draußen“. (14)

Die sorgsam ausgewählten Gedichte dieser „Lebensnachschau“ liefern durch ihre Anordnung zusätzliche Information und erzählen dabei von den wichtigsten Arbeitsstationen der Künstlerin. „Gedicht – Happy End – Selbstporträt – Endstelle […]“ lassen sich als literarische Biographie lesen, diese wird im Nachwort von Marie Luise Knott prosaisch ausgeleuchtet.

Der Textzyklus „Niemands Frau“ ist eine Auseinandersetzung mit der griechischen Mythologie, Kunst und Sprache durch Skulpturen.

Einige Werke sind als Kombination zwischen Bildmaterial und geblocktem Subtext angelegt. In „36 Ansichten des Berges Gorwetsch“, dieser befindet sich oberhalb von Leuk in der Schweiz, werden die Bilder wie morphologische Scans in einer fiktiven Welt abgetastet und scheinbar realistisch aufbereitet. Das vorgebliche Draußen imaginiert in diesem Fall, dass man ins Innere des Berges eindringen könnte.

Aus der Mappe mit Unveröffentlichtem berühren jenseits wissenschaftlicher Analyse vor allem die Texte von Krankheit, Verlöschen der Sprache, Morphium-Dröhnung und Krebsgang. „(Krebsgang) // das // das geht / das geht schon / das geht schon wieder / das geht schon wieder weg // das geht nicht wieder weg / das geht nicht wieder / das geht nicht // das nicht“ (218)

Der Titel-gebende Abschnitt ist mit SCHRIFT STELLEN überschrieben, dabei handelt es sich um Fotografien von Szenen, Stillleben, Skulpturen und Paravents, auf denen Schrift angeheftet ist. Je nach Laune der Begutachtenden stoßen dabei Sätze unterschiedlicher Strahlkraft hervor. Es liegt an den Betrachtenden selbst, passenden Sinn aus dem Kanon von Sprichwort-artigen Kurzsätzen herauszufiltern. „Vielleicht nehmen Vögel und Fische Raum ja wahr wie wir Musik.“

Der Reader ist gespickt mit Dichte, könnte man in nachempfundenen Worten der Barbara Köhler zusammenfassen. Bei ihr heißt es.

Ding lass nach! (160)

Barbara Köhler, Schriftstellen. Ausgewählte Gedichte und andere Texte, hrsg. und mit einem Nachwort von Marie Luise Knott
Berlin: Suhrkamp Verlag 2024. (= BS 1554), 258 Seiten, 25,70 €, ISBN 978-3-518-22554-7

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Barbara Köhler, Schriftstellen
Wikipedia: Barbara Köhler

 

Helmuth Schönauer, 28-06-2024

Bibliographie

AutorIn

Barbara Köhler

Buchtitel

Schriftstellen. Ausgewählte Gedichte und andere Texte

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2024

Verlag

Suhrkamp Verlag

Herausgeber

Marie Luise Knott

Reihe

BS 1554

Seitenzahl

258

Preis in EUR

25,70

ISBN

978-3-518-22554-7

Kurzbiographie AutorIn

Barbara Köhler, geb. 1959 in Burgstädt, Sachsen, starb 2021 in Duisburg.