Gundi Feyrer, Sätze, die Gedanken regnen
Soll man sich über ein Buch darüber trauen, wenn es sich laut Gebrauchsanleitung dabei um Elemente aus der Quantenphysik und der Kabbalah handelt?
Gundi Feyrer sagt ja, denn mit Analogien zu diesen beiden luftigen Gedankendepots lässt sich die Welt wundersam neu erzählen und verstehen. Mit der bestechenden Zauberformel von „Sätzen, die Gedanken regnen“ wird jäh eine und intellektuell-emotionale Großwetterlage geschaffen.
Die beiden Quellen für das Ausregnen-Lassen von Sätzen sind die Quantenphysik, die vom Quanten-Guru Anton Zeilinger einmal als Intuition bezeichnet wird; sowie die Kabbalah, die „als Sprach-Mystik und Sprach-Philosophie vom Wort-Material ausgeht und Buchstabenkombinationen als Verkleidung sieht“. (73)
In beiden Welten geht es vor allem darum, dass die Sachverhalte quer gegen die Konvention gebürstet werden und sich an die Devise halten:
Alles hängt von meiner Messung ab. (9)
Die von diesen Thesen angetriebenen Alltagssätze ergeben eine Art Tagebuch zur Kunst, worin der Akt des Denkens, Zeichnens, Schreibens und Nachlesens zu einem Fließtext verbunden ist, der sich zwischendurch als Geschichten-Schatz auftürmt.
Im Anfangskapitel wird beispielsweise eine Zugfahrt geschildert, die sich selbst inszeniert, eine eigene Autorenschaft beansprucht und für sich selbst wirkt. Nach ein paar Bewegungen durch Ort und Zeit ist die ortsfeste Kausalität verschwunden und die Reise gehorcht den Mechanismen der Quantenphysik. So lassen sich Finger der Passagiere zurückverfolgen auf die Dino-Zeit, als sich Dinosaurier und Vögel noch die gleiche Anordnung von Klauen und Fingern geteilt hat. Jeder einzelne Zuginsasse trägt seinen Teil zu dieser Erkundung bei nach der Devise Hans Peter Dürrs:
Jeder ist am Schöpfungsakt beteiligt. (23
Fixpunkte dieses später aufgezeichneten Textkontinuums sind sogenannte Fixpunkte der Zufälligkeit, die mit dem Begriff „Das Tägliche“ überschrieben werden. Diese Einträge scheinen zufällige Nahaufnahmen eines sinnlichen Moments zu sein, worin ein Individuum belanglos mit der Welt kommuniziert. Während die Eindrücke dokumentiert werden, zeigt sich, dass philosophisch grundierten Schlüsselwörter in der Aussage durchgschlagen. „Das Tägliche/Na doch: … Jeder sei nichts als eine dicke und mehr oder weniger große Luft-Blase, die in der Welt herum schwebe wie Harpo in der Rauch-Blase der Menthol-Zigaretten-Werbung auf dem Dach, man sehe nichts, nur Rauch und wandere damit herum bis man irgendwo anstoße …“ (92)
In solchen „Quanten“-Situationen stoßen angelesene Theorien und scheinbar selbst erlebte Ereignisse aufeinander und ergeben so etwas wie einen „Tag“. Nicht umsonst lässt sich dieser Begriff auch als Tag im Sinne einer Markierung lesen. In beiden fällen entsteht daraus das Tägliche. Stülpt man schließlich noch die hebräische Bedeutung darüber, wonach Tag eine Verzierung des Buchstabens sei, landet die ganze Überlegung im Vorfeld der Kabbalah.
In sechzehn Kapiteln und zwei Nachsätzen stellt sich der „Gedanken-Regen“ als Journal zur künstlerischen Tätigkeit, als Lektüre-Aufzeichnung zu Schriften von Anton Zeilinger, Hans Peter Dürr und der Propädeutik zur Kabbalah vor.
Beispielsweise wird die Arbeit an einem Gesicht geschildert, die Vorgangsweise gleicht physikalischen Experimenten oder einer meditativen Mystik, und letzten Endes bleiben zwei Löcher in einem Gesicht übrig und die Frage, was so ein Gesicht eigentlich ausdrückt. Schließlich sei jedes Ich aus Glas. (39) An anderer Stelle wird eine Verbindung zwischen zeichnen und denken hergestellt. „Die Gedanken laufen, nein fliegen lassen; Buchstaben Vögel.“ (27)
Oft sind Schlüsselwörter oder Neologismen in der scheinbar altertümlichen Schreibweise mit Bindestrich angeführt (Menthol-Zigaretten-Werbung), dieses semantische Scharnier zwischen den Bedeutungen ermöglicht es, im Sinne Zeilingers Theorien auszuformulieren.
Die Welt ist alles, was der Fall ist, und was der Fall sein könnte. (82)
Die Konsequenzen dieses Denkens sind noch nicht abzusehen, verliert doch dadurch der Begriff Objektivität an Autorität.
Die Kunsttheorien müssen deswegen nicht neu geschrieben werden, aber man könnte sie vorsichtshalber in Anführungszeichen setzen.
Gundi Feyrers „Sätze“ sind für alle ein Gewinn, a) für Furchtlose, die die Quantentheorie anwenden, obwohl sie nichts davon wissen, b) die Forschenden, die sagenhaft aktuelles Material aus der Grundlagenforschung der Kunst zu Gesicht bekommen, c) die Kunstschaffenden, die an Tagen der Krise nachlesen können, wie es weitergeht. Mit einer Beschreibung des „Täglichen“ nämlich.
Gundi Feyrer, Sätze, die Gedanken regnen. Ein Tagebuch mit Streiflichtern aus der Kabbalah
Klagenfurt: Ritter Verlag 2024, 208 Seiten, 23,00 €, ISBN 978-3-85415-669-7
Weiterführende Links:
Ritter Verlag: Gundi Feyrer, Sätze, die Gedanken regnen
Wikipedia: Gundi Feyrer
Helmuth Schönauer, 19-07-2024