Wenn man sich einmal aus Not in einen Käfigmenschen verwandelt hat, kann man dann von Amtswegen resozialisiert werden?
„In die Irre“ nennt Karl Iro Goldblat seine real-groteske Erzählung von einem Außenseiter, der statt erwachsen zu werden sich zu einem Baby verwandelt hat. Mit 13 Jahren setzt der Icherzähler, der erst am Schluss beiläufig seines Namens gewahr wird, den finalen Akt unter seine desaströse Erziehung, indem er alles voll kotet und vom Amt abgeholt wird.
Seither sitzt er in einem Schutzkäfig, und die Erzählung beginnt mit dem bedrohlichen Auftreten der Behörde, die ihn in eine Art Freiheit entlassen will. Der Held freilich sträubt sich dagegen.
„Die Wirklichkeit außerhalb meiner Zelle war mir fremd.“ (9)
Das Amt freilich hat alles vorbereitet, der Zögling, eben noch begafft wie ein Tier im Zoo, wird für das Leben angelernt. Das Mädchen Rita kommt vorbei und macht ihm jene Grundbewegungen vor, die er für sein neues Leben brauchen wird. Das Amt lässt sich diverse Verträge unterschreiben, wonach es generell für Befreiung zuständig ist. Eine eigene „Amtskörpersprache“ (13) unterstreicht die Kompetenz.
In den nächsten Schritten wird das Leben in einer Erdgeschosswohnung trainiert, ehe ein Häuschen im Grünen frei wird, wo sich die Psyche des Delinquenten entfalten soll. Das Mädchen Rita stellt sich als geheime Mitarbeiterin der Behörde heraus und ist ab jetzt für die Entwicklung von Gefühlen, Liebe und Sex zuständig. Offiziell wird Rita als Haushaltshilfe geführt.
Als Rita einen Abschiedsbrief hinterlässt und verschwindet, ist es für den Erzähler Zeit, sich mit der eigenen Geschichte zu befassen, die naturgemäß eine psychische Krankengeschichte ist. Die Eltern sind inzwischen tot oder verrückt geworden, die Erinnerung an die Familiengeschichte dient als Therapie (70), um endlich das Leben in der Großstadt auszuhalten.
Wieder ist amtlich alles vorbereitet, es geht mit dem Zug in die Stadt, wo Taxi, Mietshaus und Nachbarin bereitstehen, den anonymen Ankömmling sachlich zu empfangen.
Nach einem Einstandsfest mit der betrunkenen Nachbarin macht sich der Held auf den Weg, Zigaretten zu holen. Aber der nächtliche Ausflug endet in einem Alptraum. Das Geld liegt zu Hause, ebenso der Schlüssel, es gibt kein Vor oder Zurück, nachdem selbst der Sperrdienst das Haustor nicht aufkriegt. Der Nachtschwärmer wider Willen endet in einem Stricherlokal, das er aber nicht als solches erkennt. Die Behörde hat wohl eine Lücke in der Ausbildung gesetzt.
Die Kripo muss sich die Geschichte des Erzählers anhören, die genau der bisherigen Erzählung entspricht. Natürlich ist das alles nicht glaubhaft, und die Kripo analysiert den Fall mit den Worten:
„Ein junger Mann wie Sie geht eben manchmal Irrwege.“ (103)
Nach einem symbolischen Fluchtversuch auf der Polizeistation endet die Karriere amtlich in einer psychiatrischen Anstalt. – „So ging das die nächsten Tage und Wochen, immer der gleiche Trott: Spritzen, Therapiegespräche, Untersuchungen, Blutabnahmen, Medikamente, Gymnastik, Schlafen, Frühstück-, Mittag- und Abendessen.“ (114)
Der Erzähler gewinnt allmählich die Oberhand für seine Geschichte und gibt vor, sich selbst eingewiesen zu haben. Am Gelände sind Häuschen aufgestellt, die den Traumbildern auf Wandkalendern entsprechen.
Ein ehemaliger Hundetrainer als Nachbar spricht oft in ähnlichen Worten wie ein Arzt: „Es gibt eben unterschiedliche Ansichten, die Wirklichkeit zu betrachten. Ihre ist sicher richtig, nur versteht sie niemand.“ (125)
Im Epilog sitzt der Amtsbehandelte mit einer gewissen Jelena auf einer Bank und blickt als Schlussbild eines herzzerreißenden Films ins Leere und somit ins Glück.
Karl Iro Goldblat erzählt in einem „schizophren-klaren“ Ton vom ständigen Wechsel zwischen normal und irre. An manchen Tagen ist das gesamte Personal unterwegs „in die Irre“ und gleicht Friedrich Dürrenmatts Anstaltsklassiker von den „Physikern“ (1962). Das allgegenwärtige Amt freilich scheint dem aktuellen Österreich entsprungen zu sein. Überall zeigt der angesprochene Wohlfahrtsstaat seine Löcher, wenn man ihn braucht. Andererseits ist es Commonsence, dass der Staat am besten weiß, wie seine Untertanen ihr Leben zu gestalten haben. Auch in diesem Bild ist nicht klar, wer in die Irre geht: die Behörde oder die behördlich Behandelten. – Staatstragend!
Karl Iro Goldblat, In die Irre. Erzählung
Klagenfurt: Sisyphus Verlag 2024, 126 Seiten, 14,80 €, ISBN 978-3-903125-90-2
Weiterführende Links:
Sisyphus Verlag: Karl Iro Goldblat, In die Irre
Wikipedia: Karl Iro Goldblat
Helmuth Schönauer, 14-12-2024