Das Dorf war so klein, dass man den Kindern auftrug, auf der Straße alle Männer zu grüßen, weil man nie wissen konnte, wer der Vater war.
Valerie Fritsch rollt mit einem einzigen Satz die Soziokultur eines Dorfes auf, halb ist der Kommentar im Stil grotesk, halb fotografisch nüchtern wie eine Dokumentation. Diese zwiefältige Beschreibungsmethode ist auch notwendig, denn es geht um ein weitverbreitetes Phänomen: das Münchhausen-Syndrom. Dieses umfasst landläufig die Lust zur Übertreibung, im psychologischen Sinn werden beim Münchhausen Stellvertreter-Syndrom Symptome einer körperlichen oder psychischen Erkrankung bei einer anderen Person vorgetäuscht oder verursacht.
Aus dieser Konstellation ergibt sich wie von selbst der Roman um die zentrale Person August Drach, der als Bub in seiner Entwicklung ordentlich gebremst wird. Zuerst verachtet ihn der Vater, indem er sich nur um seine Hunde kümmert und das Kind wie einen Hund hält. Daraufhin lernt das Kind, sich wie ein Hund zu benehmen, um beim Vater durchzukommen.
Mutter hingegen ist mit vorerst sich selbst beschäftigt und hat ein tolles Lebensprogramm:
„Mutter schaute fern, als ginge es um ihr Leben.“ (20)
Dann macht sich Vater mit nichts als sich selbst aus dem Staub und lässt sogar die Hunde zurück, die im Apfelgarten herumtoben. Jetzt greift Mutter mit übertriebener Fürsorge ein und bekocht den Jungen vorerst unauffällig mit Apfelmus. Bald entwickelt sich ein diffuser Bewusstseinszustand, August wird matt und immer matter, die Mutter wird immer besorgter und bedrückender. Bald übernimmt der Hausarzt die Vaterrolle, verschreibt auf Leer-Rezepten alles Mögliche und betreut das Kind sogar während der Fahrten in den Süden, wo die Zitronen blühen.
Als der Arzt herausfindet, dass die Mutter mit Mutterkorn den Sohn vergiftet, ist der erste Teil der Erziehung abgeschlossen und die Kindheit beendet.
Im zweiten Teil arbeitet August als Leichenpfleger. Er ist in die Stadt gezogen und hat sich aus den „Formeln der Kindheit“ eine Biographie zurechtgezimmert, die ihn überleben lässt. Die Kommunikation mit den Toten ist vielleicht ein Ausweg, um mit den still Daliegenden ins Gespräch zu kommen. Bald wird er durch diese Erfahrung kühner und verliebt sich in Ava, die als Künstlerin vor allem Häuser und Tiere malt.
August will wieder alles richtig machen und verhält sich wie ein Tier, das Modell sitzt. Da kommt ihm das hündische Verhalten zum Vater zupass. Doch die Verlustangst obsiegt und wird so wild, bis Ava verschwunden ist.
Jetzt zieht er wieder in das Dorf zurück, schläft im Kinderzimmer, um die Kindheit aufzuarbeiten, aber die Mutter rückt schon wieder unerträglich nahe auf. Als ein Kind aus der Nachbarschaft begraben wird, das einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist, gibt es kein Halten mehr.
„Aber an diesem Abend schoss August Drach seiner Mutter im Garten zwischen den Äpfeln mit der Repetierpistole der Wilhelm-Tell-Spiele, die er aus dem Kinderzimmer holte, in den Kopf. Er zögerte nicht.“ (186)
Der Roman „Zitronen“, am Cover sind sie bibliothekarisch sauber zu einer Kolonne aus Zitronenspalten geordnet, ist in literarischer Bestseller-Manier aufgenommen worden. In Dutzenden Rezensionen sind so gut wie alle erdenklichen Zugänge und Assoziationsmöglichkeiten bereits entschlüsselt.
Ergänzend dazu zwei Gedankengänge aus dem Blickwinkel von „Innsbruck liest.“
Entscheidend für das Verteilen eines Gratis-Buchs ist die Auswahl. Welches Buch des letzten Jahres ist es wert, dass sich die Innsbruckerinnen damit beschäftigen? – Die Auswahl steht und fällt mit der Jury. Es lohnt sich, die vier Personen hervorzuheben, denen das Lesemanagement der Stadt zutraut, eine verlässlich gute Entscheidung zu treffen: Doris Eibl (Uni Innsbruck), Irene Diwiak (Autorin Graz), Markus Feigl (Bibliotheksverband Österreich), Joachim Leitner (TT). Diese vier Institutionen sorgen im Kulturbetrieb der Stadt für Stabilität in einem volatilen Literaturgeschehen.
Ein zweiter Gedanke betrifft das Thema. Das Münchhausen-Syndrom findet wahrscheinlich in mehr Innsbrucker Haushalten eine Bühne, als man gemeinhin wahrhaben will. Der Roman „Zitronen“ blickt grotesk-diskret in unsere Wohnungen und ermuntert dazu, dass wir über uns geschützt reden wie in einem Roman.
Das Motiv „Dorfkind zieht in die Stadt, geht dort verloren, und zieht wieder zurück“ findet zumindest an der Uni jedes Jahr bei den Neuankömmlingen eine gespenstische Verwirklichung.
Der Roman „Zitronen“ bereitet pures Vergnügen. Man tut gut daran, jegliches schlechte Gewissen darüber, ob man auch richtig empfindet, beiseite zu schieben und die „Lesesau“ herauszulassen. Dann kann man sich ohne Genierer am Schicksal der anderen ergötzen und Dampf ablassen. Die Krankheit wird im Roman nämlich nicht nur psychologisch unter die Lupe genommen, sondern als unterhaltsame Sammlung skurriler Tagesabläufe in der Einöde ihrer selbst.
Valerie Fritsch, Zitronen. Roman ( = Innsbruck liest 2025)
Berlin: Suhrkamp Verlag 2024 (Suhrkamp TB 5479) , 186 Seiten, 13,90 €, ISBN 978-3-518-47479-2
Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Valerie Fritsch, Zitronen
Wikipedia: Winters Garten
Helmuth Schönauer, 09-05-2025