Eine leere Stelle kann durchaus schmerzen, bis sie mit einem Bindemittel ausgefüllt ist. Schreibende berichten vom Schmerz der leeren Seite, der so lange anhält, bis die erste Zeile geschrieben ist. Und aus der Pädagogik werden immer wieder Fälle berichtet, wonach ein Kind mit seiner Leere die Erziehenden geradezu zu Maßnahmen herausfordert, diese Leerstelle mit Sinn, Wünschen oder Gehorsam auszufüllen.
Sophie Reyer stellt mit der Figur des Leerstellenkindes ein unverbrauchtes lyrisches Ich vor, das sich mit der Welt auseinandersetzt, indem es verschiedene Füllpasten von Sinn ausprobiert.
In einem programmatischen Gedicht wird der Rahmen abgesteckt, worin wie in einer Datei die Materialien eingetragen werden, die in ein poetisches Bild münden, das sich schließlich als mannigfaltige Überschreibung der Leerstelle hervortut.
„Leerstellenkind / Immer sprachen andere für mich bevor ich sprechen konnte // Werte orten ihre Beute tarnen sich als Wahrheiten // wissen alles Rahmen der Festigkeit reißen sie Bedeutungen an sich // bändigen zähmen Sinn dennoch blieb ich verliebt / in die Risse aus Stille sie gaben mir schließlich meine eigene Grammatik: Leer / Stellen Kind“ (25)
Die poetischen Notate sind in der Folge meist als Zweizeiler aufgeschlüsselt, die für sich genommen so etwas wie eine Regieanweisung des Augenblicks ausmachen. „Das Meer ist ganz nah.“ (28)
Als dynamische Textwelle gelesen ergeben diese Schaumkronen des Moments eine große Bewegung, die sich mit weiten Begriffen umschreiben lässt: Selbstsuche, Erziehung, Kindsein, Körperpflege, Selfie vor leerem Hintergrund.
Diese Bewegung ist einerseits eingegrenzt durch das Subjekt, „ich bin“ (7), „noch lebe ich“ (23), andererseits durch den lyrischen Vektor Zeit, der traditionsgemäß mit Vögeln dargestellt wird. „die Rückkehr des Vogels als Vogel“ (24)
Die einzelnen Partikel sprießen ständig aus einem Doppelpunkt heraus. Dieses graphische Zeichen suggeriert, dass zuvor schon eine Gebrauchsanweisung, Indikation oder Beratschlagung stattgefunden hat, aus der sich im Sinne einer taxativen Aufzählung dann eine Maßnahme ergibt.
Sophie Reyer könnte man ein Hauptthema zuschreiben: Wie lässt sich Musikalität in die Texte bringen, und wie klingen rational verfasste Texte unter der Klangwolke der Musik.
Die Gedichte gleichen unter diesem Aspekt durchaus einer Partitur, Zweizeiler, gebündelte Akkorde und zweispaltig gesetzte Texte loten dabei die Fähigkeit der Leser aus, die Texte „musikalisch“ zu denken.
Andererseits entsteht während der Lektüre eine größere Melodie, die sich etwa mit dem Begriff Kindheit subsumieren lässt. In der Erinnerung bleibt die eigene Vergangenheit ja oft als Sound, Gemälde oder Geruch gespeichert.
Das Modell „Leerstellenkind“ eröffnet zudem eine multiple Erzählform. Die Informationsträger sind vorerst leer wie die Erde im sprichwörtlichen Schöpfungsbericht. Auf diese Leerstelle Kind wird allmählich ein Weltbild implementiert, im Falle des Gedichtbands legen Autorin und Leser Scheit um Scheit auf das Gebilde, das durchaus zu einem Feuerwerk auswachsen kann, wenn es in einem Augenblick höchster Meditation sich von selbst entzündet.
Beim Zusammentragen dieses Feuerwerks entwickelt das Leerstellenkind diverse Eigenschaften und wird zu einem Nachtkind, Kartenkind oder Schmuddelkind.
Dabei wird das lyrische Ich radikal entkernt.
„Ich bin schon wieder / ohne Haut // Die Schnüre lösen sich / mein Ich zerrissen“ (154)
In den Phasen dieser Dekonstruktion wird auch gleich das Ambiente der Lyrik, sowie die Metaebene der Poesie in Frage gestellt. „Träume sind Bücher / Träume sind Schriften // mein Kopf brennt / ein Buch träumen / einen Traum träumen // wo“ (170)
Selbst beim raschen Durchblättern mit gekniffenen Augen springen immer noch Zeilen aus dem Buch wie die sprichwörtlichen reifen Früchte, die im Herbst zerplatzen, ehe sie zu Boden fallen.
„Mama ist / das Gras // ich bin ein Same / da wo ich lande.“ (178)
Sophie Reyer, Leerstellenkind. Gedichte
Klagenfurt: Sisyphus Verlag 2025, 225 Seiten, 14,80 €, ISBN 978-3-903125-96-4
Weiterführende Links:
Sisyphus Verlag: Sophie Reyer, Leerstellenkind
Wikipedia: Sophie Reyer
Helmuth Schönauer, 16-08-2025