Lyrik ist unter anderem ein Vorgang, der zu Gedichten führt. Die Manifestation als Gedichtband ist einerseits eine Aktualisierung, die sich bei jedem Aufschlagen des Bandes neu inszeniert, andererseits eine Konservierung einer Aktion für Büchereien und Archive.
Rhea Krčmářová nennt ihr Projekt, das aus dem Zusammenführen von Aktionismus, Bildgestaltung und dramaturgischer Analyse von Abläufen besteht: „Tagebruch / Instant“. Im Vorspann ist der Hinweis angefügt, dass es sich dabei um eine Kunstform handelt, wonach Texte „on the go“ ins Handy getippt werden, um gleich darauf auf Instagram zu erscheinen.
Ein weiterer Hinweis bezieht sich auf die schaffende Person, die ausdrücklich in der Lautsprache formuliert wird. Krtsch-mar-scho-wa soll darauf verweisen, dass es ich um eine lebende Künstlerin und nicht bloß um ein Konzept oder digitales Programm handelt.
Die beiden Schlagwörter im Titel verweisen auf einen zersplitterten Tagesablauf, der als „Tagebruch“ endet. Die lautliche Annäherung an Tagebuch ist gewünscht, denn über knapp zwei Jahre hinweg sind die Einträge unter einem Datum geordnet, von Juli bis Juni übernächsten Jahres.
Die Assoziation mit dem Käsebruch als Vorstufe zum ausgereiften Käse ist möglich. Wir erleben Einträge, die noch nicht fertig sind, aber sofort in den Lesern mit dem Gären beginnen, woraus später einmal ein konziser Block an Erinnerungsmaterial wird.
Der zweite Begriff aus dem Titel, „Instant“, verweist darauf, dass die Gedichte schon fertig sind, noch ehe sie vollständig notiert sind. Nicht einmal umrühren ist nötig, die einzelnen Textteile sind wie chemische Ketten miteinander verbunden, Kleb- und Trennstoff ist der Schrägstrich zwischen den semantischen Riffs, die auch im klassischen Stil als untereinander gestellte Verse gelesen werden können.
Das häufigste Motiv für das Entstehen der Gedichte ist das Warten. Öfters beginnt die Szene damit, dass jemand mit dem Handy am Schoß wartet jäh etwas zu tippen beginnt, weil gerade keine neue Nachricht hereinkommt. Das Warten erweist sich als eine besonders intensive Instant-Form, man hat kein Ziel, kein Zeitgefühl und kein Thema, und dennoch fließt der Text aus dem Leck des Tagesdepots.
Als Subtext schwingen Bilder von großen Themen mit, der ganze Sommer, die große Liebe, der unendliche Ausblick unterlegt mit Wind, die Hitze beim Frühstück ‒ alles lässt große Themen anklingen, ehe das evozierte Gefühl jäh zusammenbricht wie Schaum in der Instant-Tasse.
Die Jahreszeiten lösen sich, wie am Kalender geplant, artig ab, aber sie sind an den Kanten verunreinigt mit neuartigen Großwettererscheinungen, die letztlich nur einen Ausdruck zulassen: pastellig. (63) Mit dieser vagen Eigenschaft schmiegt sich der Jahresanfang an die Zweige, die noch vom Vorjahr übrig sind. Das vorhandene Material wird upgedatet durch Witterung, Gefühle, Selfies.
Ein Beispiel für diese Komposition liefern die vier Bilder, die in den Text eingearbeitet sind nach dem Motto „transmediale Arbeit“. Beispielsweise ist ein Gesichtsausschnitt in Selfiemanier eingekeilt in die Mitte eines aufgeschnittenen Waldes.
Auch das Cover hält sich an den Instant-Eindruck eines aufgebrochenen Bildes. Ein Gesicht ist ausgelegt wie die vier Königinnen einer Spielkartenserie. Zwischendrin hält eine Hand die Komposition zusammen und vermittelt, dass es das Handy ist, das dem ausgestreckten Arm den letzten Schliff verleiht.
Innenwelt und Außenwelt, Autorin und Leser umkreisen einander wie Elemente aus einem noch unerschlossenen Universum.
„25.11.// stell dir deine Außenhülle vor / rosig und nachtgefärbt / überkruste deine Oberflächen / mit Himmeln aus Cellophan / seine Haut soll dein Unterschlupf sein / lochgefüllt und heilig / deine Kanten verfangen sich an / Augen aus Herbst“ (91)
Die Texte wabern auf und ab wie eine Videoaufnahme, die im schnellen Schritt von einem Tagesbruchstück zum nächsten entstanden ist.
Rhea Krčmářová, Tagebruch / Instant. Gedichte
Innsbruck: Limbus Verlag 2024, 96 Seiten, 15,00 €, ISBN 978-3-99039-256-0
Weiterführende Links:
Limbus Verlag: Rhea Krčmářová, Tagebruch / Instant
Homepage: Rhea Krčmářová
Helmuth Schönauer, 31-08-2025