Um sensible Daten aus dem Inneren einer Figur herauszukriegen, bieten sich zwei bewährte Methoden an: der Innere Monolog und das Alter Ego.
Ilse Kilic verwendet den Kunstgriff mit dem Alter Ego ironisch und setzt den Begriff wie in einem Lehrbuch gleich in den Titel. Das Lehrbuch ist das Lieblingsgenre der Autorin, da lässt sich der Sachverhalt schön in logischen Portionen darstellen und mit spritzigen Zeichnungen unterlegen. Das Thema ist dieses Mal das Altwerden.
„Mutprobe mit Zugaben“ ist eine augenzwinkernde Beschreibung des Abenteuers Altwerden.
Mimi la Whippe, die bereits in früheren Werken als verlässliche Agentin für schräge Lebensentwürfe aufgetreten ist, wird probehalber zu einer Heldin auf Zeit. Sie soll im Diskurs mit der Autorin möglichst in Echtzeit von einer sich entfernenden Zukunft berichten, ohne dabei den Kontakt abreißen zu lassen. Denn niemand weiß, wie man in Zukunft kommunizieren wird.
Mimi la Whippe dringt mit dem Wissen der Gegenwart in ihre eigene Zukunft vor und altert voraus. Dabei wird die Erlebnisluft immer dünner, weil die körperliche Dynamik nachlässt.
Autorin und Voraus-Agentin unterhalten sich über die Notwendigkeit, aus den unendlichen Angeboten eine halbwegs sinnvolle Auswahl zu treffen.
Dabei greift die Autorin in den eigenen Erfahrungsschatz, der aus Bekanntschaften, literarischen Projekten und einer schier unendlichen Anzahl gelesener Bücher besteht.
In der Theorie der Autorin gehen Bücher fließend in Menschen über und umgekehrt, sodass die Freundschaften alle mit zutraulichem Personal und Text unterlegt sind.
Während Mimi la Whippe bis in ihre Neunziger vordringt, arbeitet das Alter Ego die Meilensteine auf, die zu dem geführt haben, was jetzt die Gegenwart ist. Das Alter Ego kann sich nicht nur selbst verwirklichen oder diverse Identitäten annehmen, es kann sich auch mit Rollentausch revanchieren, indem es die Autorin als literarische Figur zurück-erschafft. Ein groß-literarischer Kreativismus greift um sich.
Das Curriculum des Altwerdens lässt sich auf die Schnelle im klassisch vorgeführten Inhaltsverzeichnis ablesen, worin Begriffe herausstechen wie das wunderbar-schreckliche Nochmals, das Jetzt als Schnappschuss im Zeitraffer, der Gesellschaftsvertrag als Fadeout.
Als literarische Influencer stellen die Hauptfiguren abwechselnd Methoden der Erinnerung vor, etwa das assoziative Ordnen von Gelesenem oder das Umformen eigener Gedichte, wenn sie sich als falsch erweisen. Zum Unterschied von der Geschichte lässt sich die Literatur nämlich ohne Aufwand umschreiben und korrigieren.
Stets geht es um einen Allgemeinzustand, der wie Humus das Gedeihen diverser Ideen und Lebensabschnitte ermöglicht. So ist es zwischendurch von Vorteil, ein Fenster zu sein, bei dem Innen und Außen variabel bleiben. Auch lohnt es sich, vorausschauend zu denken, wenn beispielsweise der Körper zu Humus wird, nachdem er den Zustand der Universalität abgestreift hat.
Beim Alterungsprozess ist die doppelte Nutzung des Wortes „Überholung“ erwünscht. Einmal ist es das Restaurieren, die Überholung des Körpers, zum anderen das Überholen im Sinne von vorbeifahren, um schneller zu sein. Wenn man sich selbst überholt und vorauseilt, schlägt man dem Alter ein Schnippchen, freilich braucht es das passende Alter Ego dazu, welches diese Prozedur durchführt. Die Zeichnungen sind zwar als vereinzelte Bilder ausgeführt, lassen sich aber als Storyboard lesen. Auch sie reifen, eilen sich selbst voraus und warten auf der nächsten Seite, dass sie wieder eingeholt und in die Arme geschlossen werden.
Das hinter Drittel besteht aus Zugaben, die entstehen, wenn man den einzelnen Kapiteln genug Zeit gibt, sich gedanklich zu entfalten. Diese Zugaben sind auch aus der Sicht der Lesenden hilfreich, weil sie offen jene Gedankengänge formulieren, die während der Erstlektüre im Untergrund verdeckt entstanden sind.
Die großen Weisheiten sind, wie bei Ilse Kilic üblich, immer in unscheinbaren Nischen des Textblocks versteckt.
„Da die Menschen nicht Tod, Elend und Unwissenheit heilen konnten, sind sie, um sich glücklich zu machen, auf den Einfall gekommen, nicht daran zu denken.“ (122)
Dieses Zitat von Pascal löst einen richtigen Wettstreit zwischen Autorin und Alter Ego aus, sodass das Originalzitat bald in den Hintergrund tritt, während der Diskurs darüber zur großen Weisheit wird.
Ilse Kilic, Alter Ego. Mutprobe mit Zugaben. Mit Zeichnungen der Autorin
Klagenfurt: Ritter Verlag 2025, 160 Seiten, 19,00 €, ISBN 978-3-85415-691-8
Weiterführende Links:
Ritter Books: Ilse Kilic, Alter Ego. Mutprobe mit Zugaben
Wikipedia: Ilse Kilic
Helmuth Schönauer, 18-08-2025