Dimitré Dinev, Ein Licht über dem Kopf

Buch-CoverAlle guten Dinge sind drei, und über die Aktion ?Innsbruck liest? sind mittlerweile drei Bücher kostenlos an die Bevölkerung verteilt worden, die alle das Prädikat wunderbar, ergreifend, aufwühlend tragen. Nach Thomas Glavinic?s Roman "Der Kameramörder" und Sepp Mall's Roman "Wundränder" ist heuer Dimitré Dinev mit seinen Erzählungen "Ein Licht über dem Kopf" in allen Händen und in aller Munde.

Es gibt in der Literatur die ergreifende Erkenntnis, dass wir alle Emigranten sind, denn zumindest aus der Kindheit musste jeder von uns einmal aussiedeln und hat somit die elementare Erfahrung der Emigration am eigenen Leibe erfahren können. In den Erzählungen Dinevs sind die Figuren ständig unterwegs mit einer Selbstverständlichkeit, als ob Unruhe, Wanderschaft, Emigration und Flucht das Selbstverständlichste der Welt wären.

In der Eröffnungsgeschichte "Wechselbäder" nehmen die Protagonisten  in Bulgarien Wechselbäder der Geschichte. Uniformen, Alltagsabläufe, öffentliche Rituale verändern sich oft über Nacht, und nur wer flink und geschmeidig ist, kann sich am Leben halten. Nicht alle schaffen es mit dem Hirn, was so das Leben von ihnen verlangt. Der kleine Held kommt zwischen Wechselstuben und neuen Geschäften in die Fänge der ukrainischen Mafia, flüchtet als Pater verkleidet in den Westen und kehrt verrückt nach Bulgarien zurück, weil er seine Seele wieder haben möchte, die Psychiatrie ist in solchen Fällen immer eine verlässliche Endstation.

Ein Dissident wird von einem hart gesottenen Polizeimeister zu einer Handtasche verarbeitet und reist als Qualitätsarbeit durch die Zeiten und Geschichten, jeder, der diese feine Haut anfühlt wird verzückt und anschließend verrückt. Die kurze Anrede ?lass uns Radio hören? knüpft an die Erinnerung an dünne Betonwändchen an, als man beim Sex das Radio voll aufdrehen musste, um die Nachbarn nicht zu sehr zu erregen, wenn man beim Sex selbst voll aufdrehte. Mit schönen Schuhen fährt ein Mädchen in einem LKW voller Reifen in die Freiheit, der Rollwiderstand scheint gering zu sein, was aber nun?

In der Titelgeschichte dreht der emigrierte Taxilenker immer das Licht oberhalb seines Kopfes aus, wenn es in einer Tiefgarage erotisch zur Sache geht. Im Laufe seines Lebens wird er auch zusammengeschlagen, bis ihm das Licht ausgeht. Und bei Verhören erweist sich das Wiener Telefon buch als mindestens so schwer und gesprächssperrig wie jenes aus Plovdiv. Man braucht oft ein Buch mit vielen Namen, um einen einzigen Namen aus jemandem herauszuprügeln.

Während einer Totenwache saufen sich die Arbeitskollegen des Verstorbenen ordentlich einen an, einem aufbegehrenden Nachbarn wird dabei das Gebiss herausgenommen, bis wieder Ruhe ist. Dabei hatte der Tote nur kurz seinen Helm auf der Baustelle abgenommen und jetzt ist der Helm bei ihm vollends ab. In der umfangreichsten Geschichte geht es um den Hai im Kopf von uns allen. Ein Trinker-Emigrant im Endstadium hat einen Doppelliter lang Zeit, um klar zu sehen. Dabei zischt ihm die Europäische Geschichte als scharfe Flosse eines Hais durchs Hirn.

Dimitré Dinev erzählt witzig, erbarmungslos, die Wortspiele sind so makaber miteinander verschweißt, dass sie wie aus einem Guss über den Bruchstellen des jeweiligen Sinnes darüber geschmiedet sind. Die Sprache ist klar und reduziert auf das Notwendigste. Oft kann eine Figur mit zwei Sätzen, ob der Chef kommt oder das Geld schon da ist, alles sagen, was notwendig ist. Mit diesen Geschichten kapiert man als Leser, was für das Leben wirklich notwendig ist. Denn jeder Schritt ist eine Emigration aus dem vorher gegangenen Schritt.

Dimitré Dinev, Ein Licht über dem Kopf. Erzählungen.
Wien: Zsolnay 2005. 192 Seiten. EUR 18,40. ISBN 978-3-552-06000-5

Weiterführende Links:
Deuticke-Verlag: Dimitré Dinev, Ein Licht über dem Kopf
Wikipedia: Dimitré Dinev

 

Helmuth Schönauer, 02-04-2006

Bibliographie

AutorIn

Dimitré Dinev

Buchtitel

Ein Licht über dem Kopf

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2005

Verlag

Zsolnay

Seitenzahl

192

Preis in EUR

EUR 18,40

ISBN

978-3-552-06000-5

Kurzbiographie AutorIn

Dimitré Dinev, geb. 1968 in Bulgarien, 1990 Flucht nach Österreich, lebt in Wien.