Gesellschaft | Kultur

Eleonore Weber, Landkarte im Maßstab 1:1

h.schoenauer - 20.12.2024

elonore weber, landkarte im maßstab 1 zu 1Die größte Glaubwürdigkeit über die Verfasstheit einer Botschaft, Nachricht oder Erzählung erweckt die Zauberformel 1: 1. Nicht nur vor Gericht erweckt eine Aussage große Authentizität, wenn sie angeblich im Maßstab 1:1 wiedergegeben wird, auch in der Weltliteratur erreicht die Glaubwürdigkeit beim Erzählen ihren Peak, als Jorges Luis Borges von einer Landkarte 1:1 spricht, die durch ihre Maßzahl an Genauigkeit nicht übertroffen werden kann. Von dieser Überlegung leitet sich auch die These ab, dass die ideale Bibliothek eins zu eins der Welt entsprechen müsse, um sie abzubilden.

Eleonore Weber erweitert diesen Gedankengang mit ihrer Sammlung von zwölf Geschichten, die diesem magischen 1:1 unterworfen sind. Eine ideale Erzählung gleicht daher in ihrer Dauer dem erzählten Stoff, eine darin eingewobene ideale Zeichnung entspricht in Größe und Schraffur dem abgezeichneten Original, und auf der Netzhaut sollten Land und Karte den gleichen Reiz für das Gehirn auslösen.

Ludwig Roman Fleischer, Anamnesen

h.schoenauer - 16.12.2024

ludwig roman fleischer, anamnesenDie beiden wichtigsten literarischen Genres in Österreich sind Amnesie und Anamnese. Im einen Fall wird alles ausgeblendet, was das Wohlbefinden stört, im andern Fall alles geadelt, was zu einer Krankheit führt. So sind im öffentlichen Bereich die Krankengeschichten stärker verbreitet als andernorts die Kriminalgeschichten.

Ludwig Roman Fleischer fischt seine Helden aus einem Berg von Krankengeschichten, verstörenden Befunden und schön geredeten Desastern heraus, wobei er unter Anamnese nicht nur die Vorerkrankungen einer heldenhaften Person versteht, sondern auch die Krankengeschichte eines Landes, einer Gesellschaft, ja der Geschichte überhaupt. Im Sinne der Erzählung „Amras“ von Thomas Bernhard ist Geschichte nämlich Krankheit.

In zwanzig Geschichten vom Kranksein kommt allmählich eine Gesamt-Anamnese heraus, die ob ihrer Groteske jeden zum Schmunzeln bringt, der diese Befunde in die Finger kriegt. Die ausgewählten Krankengeschichten reichen in ihrer Entstehung bis an die Jahrtausendwende zurück und zeigen daher beinahe im Jahresrhythmus, wie krank die Gesellschaft ist. Oder im Volksmund formuliert: Irgendwer ist immer krank!

Martin Kolozs, Kreuzwege

h.schoenauer - 09.12.2024

martin kolozs, kreuzwegeAlle Menschen unterliegen biographischen Kreuzwegen, wenn sich eigene Lebenslinien mit solchen anderer Zeitgenossen kreuzen. Im religiösen Ambiente versteht man unter Kreuzweg eine leidende Auslegung des Schicksals, im strengen katholischen Ritual hat sich daraus das Genre des Kreuzwegs herausgebildet, dabei werden in vierzehn Episoden die Leidensstationen Christi auf seinem Weg hin zur Kreuzigung nachempfunden und nachgebetet.

Martin Kolozs greift in seiner Auftragsbiographie „Kreuzwege“ zur Dramaturgie dieses Genres, indem er das Schicksal der Tiroler Jesuiten Johann Schwingshackl und Johann Steinmayr miteinander verschränkt und sie anschließend durch die politische Zeit des Nationalsozialismus begleitet, dem sie schließlich zum Opfer fallen: Beide werden hingerichtet.

Mario Hladicz, Tag mit Motte

h.schoenauer - 06.12.2024

mario hladicz, tag mit motteGedichte sind unter anderem dazu da, die Zeit anzuhalten und die darin aufgestapelten Vorgänge einzumotten. Gedichte sind die idealen Mottenkugeln, heißt es in einer gängigen Anleitung für Alltagslyrik.

Mario Hladicz greift diese Theorie auf, und überschreibt seine Gedichte mit „Tag mit Motte“. Darin ist subsumiert, dass in den Gedichten der Ablauf der Zeit angehalten und für die Konservierung tauglich gemacht wird. Dass dann die Gedichte wie Motten unerwartet aus dem Depot fliegen, ist beabsichtigter Kollateralschaden.

„Tag mit Motte // Es ist nämlich so erst passiert wenig bis / nichts so bis um sieben halb acht dann / flattert sie an mir vorbei und malt mit / jedem Flügelschlag das Fenster aus mit / Licht das macht das Aufstehen erträglich“ (50)

Leopold Federmair, Hiroshima Capriccios

h.schoenauer - 04.12.2024

leopold federmair, hiroshima capricciosCapriccio bezeichnet den absichtlichen, lustvollen Regelverstoß der akademischen Normen, ohne die Norm außer Kraft zu setzen.

Leopold Federmair benützt für seine Notizen und Mikro-Essays demütig das Genre „Capriccio“, womit er die japanische Kultur aus der Sicht eines Österreichers als Abweichung beschreiben kann, ohne dadurch in der einen oder anderen Kultur herablassend zu wirken. Bei Aufzeichnungen zwischen den Kulturen besteht nämlich die eine Gefahr darin, dass man sich anbiedert, die andere, dass man sich über sie hinwegsetzt. Aus diesem Grund sind die Hiroshima-Texte vorne als Rahmen erklärt und hinten als Glossar.

Robert Rebitsch, Rebellion 1525

andreas.markt-huter - 29.11.2024

robert rebitsch, rebellion 1525„Am 10. Mai 1525, vor 500 Jahren, läuteten in der Umgebung von Brixen die Kirchenglocken Sturm. Das war das Zeichen für den Aufstand gegen die Obrigkeit, gegen Fürstbischof Sebastian Sprenz. Auf der Millander Au versammelten sich an die 5000 Bauern der umliegenden Gerichte. Zuerst plünderten sie in der Stadt Brixen und dann im Kloster Neustift.“ (S. 7)

Die geplante Hinrichtung des „berühmt-berüchtigten Absagers“ Peter Pässler bildete den Startschuss zu den Tiroler Bauernkriegen in den Jahren 1525/26, die bald auf die Grafschaft Tirol und Fürstbistum Trient übergriffen. Mit Michael Gaismair, dem Kanzlisten des Fürstbischofs von Brixen und Kleinunternehmer im Bergbau, tritt auch die wohl bekannteste Figur des Tiroler Bauernaufstandes die historische Bühne.

Alfred Paul Schmidt, Fernweh

h.schoenauer - 27.11.2024

alfred paul schmidt, fernwehFernweh irritiert in der Literatur die Helden doppelt. Zum einen können sie keinen klaren Gedanken mehr fassen, weil sie mit ihrer Sehnsucht schon weit weg sind, zum anderen wird die Realität bedrückend, weil sie als unmittelbare Umgebung das Gegenteil von Fernweh ist.

Alfred Paul Schmidt installiert rund um den magischen Titel „Fernweh“ seinen Flanierroman, worin die Helden während einer Pandemie aus den diversen Verhaltensvorschriften ausbrechen und sich eine eigene Welt schaffen.

„Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen ist das Sinnieren über einen Gegenstand, während im Fernsehen irgendwas läuft.“ (57) Und an anderer Stelle kommt die Erkenntnis zum Vorschein: „Dieses Pendeln zwischen einer gedachten und einer wirklichen Wirklichkeit ist offenbar ein zentrales Vergnügen unseres Bewusstseins.“ (132)

Hanne Römer, DATUM PEAK – Eine Expedition

h.schoenauer - 25.11.2024

hanne römer, datum peakVon Forschenden kennen wir meist nur ihre Ergebnisse, Reisen und Laborberichte. Nur selten gelingt es uns Lesenden, in ihre Köpfe zu schauen um zu erfahren, wie sie ticken. Und stimmt es wirklich, dass sie für sich alle eine Geheimsprache verwenden?

Hanne Römer startet mit „Datum Peak“ ein Projekt, in dem diverse Zeichensysteme und Sprechweisen daraufhin untersucht werden, ob wissenschaftliches Denken einen Einfluss auf die Psyche ihrer Helden hat. Dieses Modell ist in einem Nachsatz am Ende des Textes angefügt und kann als Regieanweisung gelesen werden.

Jonathan Haidt, Generation Angst

andreas.markt-huter - 22.11.2024

jonathan haidt, generation angst„Generation Angst ist ein Buch, in dem es darum geht, wie wir das menschliche Leben für Menschen aller Generationen zurückerobern können.“

Das Buch „Generation Angst“ von Jonathan Haidt beleuchtet die Verschlechterung der psychischen Gesundheit von Jugendlichen. Haidt, Sozial- und Moralpsychologe, sucht nach den Ursachen und sieht die Gründe vor allem in einer überbehüteten Kindheit und dem zunehmenden Einfluss von Smartphones, Social Media und der Selfie-Kultur. Diese technologischen Entwicklungen hätten das Leben junger Menschen massiv verändert und zu einem Anstieg von Angststörungen, Depressionen und Selbstverletzungen geführt. Haidt untermauert seine Thesen mit internationalen Studien, Statistiken und Grafiken, die den globalen Charakter des Problems aufzeigen.

Barbara Köhler, Schriftstellen

h.schoenauer - 20.11.2024

barbara köhler, schriftstellen„Ihre Bücher sind Skulpturen und Depots zugleich.“ (238) SCHRIFTSTELLEN ist ein komprimierter Nachruf, bestehend aus verdichtetem Werküberblick, Biographie sowie Beschreibung der wichtigsten Thesen.

Barbara Köhler erfährt eine bemerkenswerte „Künstlerin-Erweckung“, als sie in der DDR mit den Phänomenen Zensur und Parteiprogramm konfrontiert wird, noch ehe sie eine Zeile geschrieben hat. Das Ausüben der Kunst ist vom ersten Augenblick an mit ihrem Verbergen verknüpft, nur so lässt sich an ungesicherten Stellen des Systems Literatur unterbringen und mit Sprengkraft versehen, wie bei jenem Eis, das bei Kälte die Felsen sprengt, in den es bei Wärme eingedrungen ist.