Leopold Federmair, Hiroshima Capriccios

h.schoenauer - 04.12.2024

leopold federmair, hiroshima capricciosCapriccio bezeichnet den absichtlichen, lustvollen Regelverstoß der akademischen Normen, ohne die Norm außer Kraft zu setzen.

Leopold Federmair benützt für seine Notizen und Mikro-Essays demütig das Genre „Capriccio“, womit er die japanische Kultur aus der Sicht eines Österreichers als Abweichung beschreiben kann, ohne dadurch in der einen oder anderen Kultur herablassend zu wirken. Bei Aufzeichnungen zwischen den Kulturen besteht nämlich die eine Gefahr darin, dass man sich anbiedert, die andere, dass man sich über sie hinwegsetzt. Aus diesem Grund sind die Hiroshima-Texte vorne als Rahmen erklärt und hinten als Glossar.

Eingangs wird die Schreibsituation erläutert. Hiroshima ist für den Autor jener Ort, an dem er sich am längsten aufgehalten hat, nämlich dreizehn Jahre. Für ein Buch darüber sind 13 Jahre nicht spektakulär, aber es musste jetzt geschrieben sein, zumal nie sicher ist, ob man die Zahl fünfzehn bei den Aufenthaltsjahren erreicht. Außerdem beflügelt die Pandemie eine gewisse Endzeitstimmung in der es gilt, noch alles zu erledigen. Hiroshima ist ein ideal-dystopischer Ort für dieses Unterfangen.

Im Nachspann ist ein Glossar angelegt, das auf Originalschriftzeichen verzichtet und eine Art Vulgär-Japanisch bedient, das den europäischen Lesegewohnheiten entgegenkommt. Aus den drei Seiten von Spezialbegriffen könnte man sich drei heraussuchen, die diesen Kulturtransfer am ehesten beschreiben.

  • a) „Halbes Haus“ – damit bezeichnen der Autor und seine Tochter im privaten Gebrauch jenes Gebäude, dessen eine Hälfte von
        der Atombombe übriggeblieben ist und das als Denkmal gepflegt wird.
  • b) „Konbini“ – Abkürzung für Convinience Store; wer Japan im Alltag verstehen will, muss an die Schnittstelle des täglichen
        Bedarfs gehen.
  • c) „kawaii“ – häufig verwendetes Adjektiv, um die Kunst im täglichen Leben zu beschreiben, übersetzt mit „hübsch, lieb, süß“.

Zwischen Schreibsituation und Vokabular sind die Gedankengänge als Notizen und Essay-Gerüste ausgebreitet, immer wieder von Gedichten angehalten, die das Konzept „a capriccio“ zelebrieren.

Einer von tausend / Sonnenstrahlen bahnt sich den Weg / durchs Bambusdickicht / und spielt a capriccio auf / dem leuchtenden Moosklavier. (230)

Von Hiroshima aus, das vor allem in Universitätsgärten, Bäume und Pflanzungen jeder Art investiert hat, geht es hinaus ins Gelände mit Hilfe sogenannter Regionalreisen. Dieser Begriff beinhaltet Tagesreisen mit Rad und öffentlichem Verkehr, ganz dem Begriff Regionalbahn nachempfunden.

„Jede Reise, auch im Regionalen, sollte man mit einem Selbstporträt beginnen und enden, damit man sieht, wie die Reise den Reisenden verändert hat.“ (24) Die Stunde der Wahrheit schlägt für die Dokumentation bei der Suche nach den entsprechenden Überschriften. – Wiederholung der Wiederholung / Katastrophenspuren / Geisteshöhe als Ausflugsziel / Sehnsuchtsort / Veränderung / „unmerklich oder fast“.

Dahinter steckt die Sehnsucht, den Rest des Lebens zu gestalten, indem man die Fundamente für dessen Dokumentation legt. „Und das Verschwundene … Manches davon habe ich festgehalten, in Büchern, Essays, Artikeln, in erfundenen und wahren Geschichten bewahrt.“ (16) Dabei erweisen sich die Einträge als eine zufällige Möglichkeit, die während der Fixierung erodiert. „Vielleicht ging es so, das Gedicht, vielleicht auch anders.“ (101)

In die Essays sind die Ausflugskommentare geschickt als Rechercheergebnisse eingebaut, als ob die Reisen jeweils ein Ziel gehabt hätten. Aus dem Plot der Gedankengänge entstehen typisierte Begebenheiten. So werden Radfahrer während der Abfahrt auf engen Straßen geachtet wie Götter, die man nicht überholen oder unsicher machen darf. (83) Die Landschaft ist vielerorts überklebt mit Sonnenkollektoren, die sich an die Konturen ehemaliger Landscape-Flächen halten, aber die Bauern haben schon längst aufgegeben und setzen auf Vermietung des Landes für Energiezwecke.

Wohl versteckt und zur Selbstverständlichkeit geworden sind Geländeeinheiten hinter Stacheldraht, sie gehören der US Army, die riesige Ländereien für ihre Stützpunkte nützt.

An Hiroshima angrenzend liegt die Stadt Kure, die sich nur seitlich betreten lässt. Das dürfte der Grund sein, warum sie damals nicht Ziel der Atombombe geworden ist, denn der seitliche Zugang schützt Städte. Freilich ist Kure konventionell zerstört worden, vielleicht ist sie deshalb dem Hiroshima-Schicksal entgangen.

Nach drei Jahren setzt der Autor einen Schlusspunkt hinter die Regionalreisen und stellt sich die Bilanzfrage:

Musst du das alles schreiben? / Um es zu ‚retten‘? / Kannst du es nicht sein lassen? (203)

Leopold Federmair setzt mit seinen Hiroshima Capriccios einen einladenden Schriftzug für die Lesenden, es bei der Erkundung der eigenen Umgebung mit Regionalreisen zu versuchen, „Geh dorthin, wo nie jemand hingeht.“ (140) Einzige Bedingung, für das Erkunden von Punkten, die sonst leer abgespeichert und unbeachtet in der Geographie oder Geschichte liegen, ist das „Verfertigen der Gedichte beim Gehen“. Ganz im Sinne von Heinrich von Kleist und seinem Aufsatz über das Entstehen der Gedanken beim Reden.

Leopold Federmair, Hiroshima Capriccios
Salzburg: Otto Müller Verlag 2023, 328 Seiten, 26,00 €, ISBN 978-3-7013-1310-5

 

Weiterführende Links:
Otto Müller Verlag: Leopold Federmair, Hiroshima Capriccios
Wikipedia: Leopold Federmair

 

Helmuth Schönauer, 24-07-2024

Bibliographie
AutorIn:
Leopold Federmair
Buchtitel:
Hiroshima Capriccios
Erscheinungsort:
Salzburg
Erscheinungsjahr:
2023
Verlag:
Otto Müller Verlag
Seitenzahl:
328
Preis in EUR:
26,00
ISBN:
978-3-7013-1310-5
Kurzbiographie AutorIn:
Leopold Federmair, geb. 1957 in Wels, lebt in Hiroshima.