Tiroler Gegenwartsliteratur

Andreas Brugger, Über das Fallen

h.schoenauer - 20.01.2016

Manche Themen entwickeln geradezu eine eigene Literatur-Gattung. Das Fallen etwa ist seinerzeit während der Belagerung Leningrads von Daniil Charms literarisch zu einer solchen Spitzfindigkeit entwickelt worden, dass man ihn selbst in der Belagerung noch extra im Gefängnis festgesetzt hat, weil sein dichterisches Treiben noch im Untergang als gefährlich gegolten hat.

Andreas Brugger greift den Kosmos Fallen auf, um neben 41 Gedichten vor allem ein „Fragment über das Leben und Sterben des polnischen Lyrikers Wladyslaw Szlengel im Warschauer Ghetto“ auf die Bühne zu bringen.

Annemarie Regensburger, Mittlt durch giahn

h.schoenauer - 11.10.2015

Lyrik muss sich fallweise eine eigene Bahn durch morastiges Gelände bahnen, dabei besteht ihre Widerstandskraft darin, dass sie sich mitten durch den Alltag eine tragfähige Spur bahnt, ähnlich einem Schneeflug, der alles für die Fahrt am Morgen freihält.

Annemarie Regensburger ist die große Widerstandskräftige Tirols, mit ihren Dialektgedichten hält sie den Oberflächlichen einen Tiefenspiegel vors Gesicht, mit ihren raren spitzen Epigrammen setzt sie den Floskeln auf den Wegwisch-Displays Grenzen, mit ihren Ermunterungen aus dem der Mitte des Alltags räumt sie verlässlich das Dickicht beiseite, um mit klaren Sätzen durchzustoßen auf die Hinterseite der oft rasch ausgesprochenen Vorurteile. 

Martin Kolozs, Ein Funke Leben

h.schoenauer - 08.10.2015

Mit dem berühmten starken Anfangssatz brennt sich ein Roman unauslöschlich in das Gedächtnis der Leserschaft. „Jeden Sonntagmorgen, seit 1998, wachte Samuel Bly alleine auf und masturbierte.“ (9)

Nicht nur wegen dieses starken Auftritts des Helden Samule Bly ist Martin Kolozs Roman „Ein Funke Leben“ eine unvergessliche Angelegenheit, das Kammerstück über Trauer, Sinn des Lebens und Verlöschen des Daseins in der dahin strömenden Zeit bremst den bloßen Tagesablauf und implementiert quer gelegte Gedanken.

Max von Gutleben, Solange noch Blätter auf den Bäumen sind …

h.schoenauer - 06.10.2015

Das Glück ist einerseits durch einfache Bilder ausgeflaggt und zwingt andererseits den Glücksuchenden zu unendlich ausufernden Schleifen, und zu allem Überdruss ist das Ende offen.

Der Glücksuchende im Hypo-Roman „Solange noch Blätter auf den Bäumen sind“ sichert sich gleich mehrfach gegen allzu eindeutige Entlarvungen seines Tuns ab.

Horst Schreiber / Irmgard Bibermann, Von Innsbruck nach Israel

h.schoenauer - 10.09.2015

Trotz aller Bemühungen um eine ausgewogene Geschichtsvermittlung, schaffen es Andreas Hofer mittlerweile auf diverse Käseverpackungen und Zu Mantua in Banden in die Hitlisten diverser Landtage, von einer Geschichte der Juden in Tirol weiß hingegen kaum jemand etwas.

Horst Schreiber stellt vor das Porträt des Abraham Gafni daher einen historischen Essay über das jüdische Leben in Tirol. Und da kommt es gleich zu einer Begegnung zwischen dem Mythos Andres Hofer und dem jüdischen Leben. Als die Hofer-Bande 1809 Innsbruck wieder erobert, grölt sie durch die Altstadt und macht sich über die wenigen Juden her, die in Innsbruck damals ansässig sind. Quasi zur Belohnung dichtet 1831 Julius Moser, ein deutscher Burschenschafter mit jüdischen Wurzeln, das berühmt-berüchtigte „Zu Mantua in Banden“ zusammen“. (14)

Georg Paulmichl, Bis die Ohren und Augen aufgehen

h.schoenauer - 19.07.2015

Ein Fernsehabend erlöst den anderen. - Wenn Sprichwort-artige klare Analysen im Spiel sind, ist Georg Paulmichl nicht weit. Er schafft es mit seinen beinahe täglichen Schreibüberlegungen, dem jeweiligen Tag und sich selbst den letzten Schliff zu geben.

Seit mehr als drei Jahrzehnten schreibt Georg Paulmichl mehr oder weniger freiwillig unter Anleitung seiner Betreuer seinen Tagesstoff, der zwischen Therapie, Heimatkunde und Jahreskreis angesiedelt ist. Die Miniaturen halten sich oft an ein ausgegebenes Thema und entlarven diverse Kommunikations-Rituale, indem die Sachverhalte oft allzu wörtlich, seltsam verschränkt oder mit Querverweisen aus völlig fernen Gebieten abgesichert werden.

Barbara Hundegger, Wie ein Mensch der umdreht geht

h.schoenauer - 09.07.2015

Einem Kunstwerk ist es natürlich egal, ob man sich davor verneigt oder nicht, zwischendurch muss man einem Kunstwerk einfach aus emotionalen Gründen sagen, dass es gelungen ist. Und das sagt man auch der Autorin.

Barbara Hundegger hat mit den Dante-reloaded-Gedichten ein perfektes Kunstwerk geschaffen, das im Kosmos der Literaturgeschichte voll verankert ist (Dante) und gleichzeitig die Gegenwart in einen zeitlosen Erkenntniszustand versetzt. Ja, so schaut das Jahr 2014 in Europa aus, daran kauen die Menschen, mit solchen Apps „wie der Mensch umdreht geht“ versuchen sie die Lage zu begreifen und auszuhalten.

Mathias Klammer, Ein guter Tag zum Fliegen

h.schoenauer - 07.07.2015

Dem Roman „Ein guter Tag zum Fliegen“ ist ein Lesezeichen beigelegt mit der Zauberformel: „Ein guter Tag zum Lesen.“ - Die gute Witterung zum Abhauen aus der Schwerkraft lässt sich vielleicht mit Lesen bewerkstelligen.

Mathias Klammer faltet seinen Roman über einen tief sinnierenden Außenseiter in zwei Flächen auf. Im ersten Abschnitt, ein guter Tag zum Fliegen genannt, wühlt sich ein Erinnerungs-Ich durch die Kindheit und andere familiäre Krisen-Situationen und setzt sich intensiv mit der Todeskrankheit des Bruders auseinander.

E. W. Bichler, Der Kluibenschädel. Das Ende

h.schoenauer - 02.07.2015

Wie sich die sogenannte Freiheit in einer straff geführten Gesellschaft anfühlt, kann am besten jemand erklären, der gerade frisch aus dem Gefängnis entlassen worden ist.

E. W. Bichler schickt seinen Helden Kluibenschädel, der in mehreren existentiellen Abenteuern das Leben gemeistert hat, in eine durchaus an den Nerven zehrende Endzeit und schließlich in den Tod.

Stefan Abermann, Schatzkästlein des reinlichen Hausfreundes

h.schoenauer - 30.06.2015

Zu Zeiten, wo sich größere Bevölkerungsschichten aufmachen, so etwas wie Bildung und Lebenssinn zu inhalieren, boomen gerne die Hauskalender und Schatzkästlein, worin für alle Stimmungs- und Lebenslagen gute Tipps nachzulesen sind.

Stefan Abermann greift diesen Bildungshunger nach Snack-Portionen und Apps auf und destilliert aus diversen Abenden des Poetry-Slams lebensnotwendige Texte für den Hausgebrauch heraus. Kurze Auftritte, die vor allem auf der euphorischen Tagesverfassung des Vortragenden aufbauen, werden im Schatzkästlein zu pragmatischen Anleitungen, mustergültigen Fallgeschichten oder Breitband-Medikamenten gegen allerlei Fährnisse des Alltags herunter gebrochen.